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„Das Nachdenken über den Tod ist ein Nachdenken über Widersprüche“

„Das Nachdenken über den Tod ist ein Nachdenken über Widersprüche“ © Matthias Rude
Interviewpartner_innen
Interview mit Rehzi und Micha (SOMOST)
SOMOST (Sonne, Mond und Sterne) war eine stadtteilpolitische Gruppe aus Köln-Kalk, die sich mit verschiedenen Themen, unter anderem mit dem Themenkomplex Sterben, Tod und Trauer beschäftigt hat. Hierzu haben sie „16 Thesen zum Scheitern der Linken am Tod“ in der arranca! (Nr. 40) veröffentlicht.

kritisch-lesen.de Wie seid ihr überhaupt dazu gekommen, euch mit dem Thema Tod zu befassen?

Rehzi Wir haben angefangen ganz viel über Religion zu reden. Das hatte unter anderem damit zu tun, dass eine Gruppe junger Muslimas ins Naturfreundehaus in Köln-Kalk gekommen ist. Davon ausgehend haben wir uns gefragt: Warum ist Religion für viele Leute wieder attraktiv, und zwar zunehmend attraktiv? Auch Sekten und Esoterik sind in allen Teilen der Welt im Aufwind. Da kamen wir darauf, dass sie die einzigen sind, die den Leuten eine Antwort auf die Frage nach dem Tod geben – oder vermeintlich geben – und dass das eine totale Leerstelle bei den Linken ist. Die Linken lassen Menschen mit dem Tod allein. Also haben wir gesagt: Da müssen wir ran.

Micha Ich habe auch noch einen individuellen Grund: Seit meiner frühesten Kindheit laufe ich vor Endgültigkeiten, vor allem dem Tod, weg. Ich bin davor immer geflüchtet, bis mich eine Freundin wegen einer Arbeit für die Uni dazu gebracht hat, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

R Ich hatte auch erst einmal ein individualistisch-aufgeklärtes Verhältnis dazu, im Sinne von „'Selbstmord' heißt 'Freitod', ist eine freie Entscheidung und hat etwas mit Freiheit zu tun; ich hab keine Angst vor dem Tod, der geht mich nichts an." Über die Frage nach dem Zusammenhang von Tod und Religion habe ich dann festgestellt: Nein, so einfach kann man sich das nicht machen. Das stimmt einfach nicht. Da ist ein ganz großer Schmerz und eine ganz große Unsicherheit. Und dann fängt man an zu lesen und stellt fest, dass sich ein riesiger Bereich der Philosophiegeschichte mit dem Tod beschäftigt hat und auf keine endgültige Lösung kommt.

Außerdem laufe ich mein Leben lang mit einer Todessehnsucht rum und finde das Leben oft unerträglich. Ich habe mir nie konkret vorgenommen mich umzubringen, aber seit meiner Jugend denke ich sehr oft, dass es manchmal einfach netter wäre, tot zu sein. Deswegen ist es für mich ein nahes Thema. So haben wir gemerkt, dass wir da ein gemeinsames Interesse haben. Es gab dann noch eine dritte Person, die am Anfang auch mitgemacht hat. Eine vierte Person, die Teil unserer Gruppe war, ist vor dem Thema davongelaufen, weil sie nichts damit zu tun haben wollte.

KL Warum ist es denn – scheinbar zumindest – so, dass sich große Teile der Linken eben nicht mit dem Thema Tod auseinandersetzen?

M Ich finde, das ist dieser verzweifelte Versuch, Irrationalität nicht zuzulassen. Das ist auf radikale Art bürgerliche Aufklärung und ihr bedingungsloser Materialismus. So radikal, dass man sich Grenzerfahrungen nicht nähern kann. Ich glaube, dass da die Linke einfach einen pseudorationalistischen Spleen hat. Linke Theorie und Praxis ist auch immer mit der persönlichen Geschichte der Leute verbunden, und das ist bei mir ein fortschrittliches Christentum, das mir durch linke Theologen der Achtundsechzigergeneration vermittelt wurde. Dabei bin ich völlig atheistisch oder heidnisch erzogen worden. Deswegen hatte ich etwas übrig für Ideen, wie die Überwindung der Endlichkeit, also eine Perspektive auf die Abschaffung des Todes oder ein irgendwie Weiterexistieren. Und diese Fragestellung findet sich auch bei Bloch, Adorno oder Marcuse wieder. Damit konnte ich sofort etwas anfangen. Die Linke spricht über diesen Teil des Werkes ihrer wichtigen Denker aber nicht. Da gibt es einen extrem verbreiteten Gegenreflex, ich vermute, weil die Leute Angst haben, sich damit auseinanderzusetzen, weil sie damit auch Schwäche zeigen müssen.

KL Was meinst du mit Schwäche?

M Wir sind dem Prozess des Sterbens und dem Zustand des „Totseins“ ausgeliefert. Das Verhältnis zu Sterben und Tod in dieser Gesellschaft ist immer eines, das mit Angst verbunden ist, immer! Und das ist eine Schwäche, die viele nicht aushalten. Selbst bei Menschen, die am Ende ihres Lebens angekommen sind und die damit abgeschlossen haben, gibt es einen letzten Reflex, der nicht nur ein chemischer und biologischer ist, sondern in diesem letzten Zucken ist etwas, das sich gegen den Tod wehrt.

R Linke Politik ist sehr viel von Machbarkeit und Erfolg abhängig. Es geht darum, dass man kämpft und kämpft und dabei stark ist. Nicht nur Tod, sondern individuelles Scheitern, krank sein, schwach sein, Depressionen haben, alt werden, passen da nicht gut rein. Es passt nicht, dass da plötzlich Leute sind, die nicht mehr vorne mitmarschieren, die nicht mehr mitorganisieren, die nicht mehr funktionieren. Ich glaube, Linke haben tendenziell, auch wenn sie das gar nicht wollen, ein sehr stark funktionelles Verhältnis zueinander. Was auch mit dem Druck zu tun hat, der auf ihnen lastet. Vielleicht steckt das schon in dem Begriff ‚Genosse‘, den ich eigentlich mag, mit dem man aber den anderen in seiner Funktion als Kämpfer anspricht. Wenn dann Leute nicht mehr mitmachen können, haben sie keinen Platz mehr innerhalb der Linken. Das ist vielleicht nicht immer so gewesen. Es gibt durchaus linke Kulturen und Traditionen, die viel alltagsverwurzelter waren und in denen das Zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen auch was Politisches war. Alle fürchten sich vor dem Tod, da bilden Linke keine Ausnahme. Spezifisch für die Linke ist, dass Scheitern und Nicht-Funktionieren nicht vorkommen dürfen in diesem Kämpferischen. Es gibt zwei typische Reflexe. Der eine ist die auch von Antideutschen hochgehaltene Ablehnung jeglicher Versöhnung mit dem Tod, weil sie die Unterwerfung unter die Verwertung bedeutet. Sterbehilfe und Suizid werden folglich abgelehnt, weil sie der Verwertungslogik folgen. Auf der anderen Seite gibt es das eher anarchistisch-individualistische Feiern des Freitods als freier Entscheidung. Ich würde beide Sichtweisen ablehnen, weil sie Widersprüche außer Acht lassen.

KL Eine linke Auseinandersetzung mit dem Tod erfordert also auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Leistungsdenken der Linken?

M Leistungsverweigerung innerhalb der Linken ist ein eher neues Phänomen. In der Haupttendenz waren Linke immer auf Leistung orientiert, auf Fit-Sein und auf Selbstaufopferung. Zum Beispiel geht es in der stalinistischen Literatur häufig darum, dass sich junge Kommunisten im Malocherprozess für das Kollektiv aufopfern. Da steckt eine Verachtung des Todes drin, die Bereitschaft das Individuum als Opfer zu bringen. Sich so kaputt zu malochen, dass man hinterher den Arsch nicht mehr hochbekommt, ist ja gerade auch ein Teil linker Geschichte. Immer geht es um Leistung. Die ganze Fortschrittsorientierung der Linken baut auf dem Gedanken auf, nicht nur Ingenieure der Technik, sondern auch der Menschen zu sein. Die Menschen sollen verbessert werden. Das ist essentiell für den dominanten Teil der kommunistischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts.

KL Hängt die mangelhafte Auseinandersetzung der Linken mit dem Tod damit zusammen, dass das Metaphysische abgelehnt wird? Oder vielleicht auch mit einem schwierigen Umgang mit Emotionen?

R Ich muss da an einen ehemaligen Genossen denken. Der hatte da eine ganz rigide Haltung. So nach dem Motto: "Tod? Na und? Danach kommt nichts mehr. Ist doch egal." Da ist vollkommen klar, dass das eine Verdrängung von Schmerz und Unsicherheit ist. Das ist der Schmerz über den Verlust anderer und über die Unvollendbarkeit des eigenen Lebens. So sagen Adorno und Marcuse auch, die Idee muss sein, eine Gesellschaft zu schaffen, in der es nicht mehr schlimm ist zu sterben, weil man sein Leben nach seinen besten Möglichkeiten vollenden konnte. Der Tod in unserer Gesellschaft hat immer den schlimmen Anteil, dass so viel ungelebtes Leben übrig bleibt, dass er das Ende der Möglichkeiten ist und man so wenige hatte. Das ist die Tragik, die man empfindet. Da kommt man auch an seinen eigenen Horizont und fragt sich: wie viel Zeit habe ich noch, was will ich noch machen, was konnte ich alles nicht verwirklichen? Die Linke kann kein Versprechen, das über den Tod hinausgeht, anbieten. Für sie geht es um das Hier und Jetzt. Der Tod ist das Thema der Pfaffen und der Faschisten. Mit dem Versprechen auf das gute Leben nach dem Tod fängt die Religion die Leute ein und macht sie gefügig. So ist die Hölle, in der wir leben, besser zu ertragen. Die Faschisten hingegen verherrlichen den Tod, weil sie das Leben verachten. Das kann man gegenwärtig am Islamischen Staat beobachten. Auch in der Linken gibt es aber einen Märtyrerkult.

M Der ist auch extrem autoritär und benutzt eigentlich die gleichen Hebel, wie die Pfaffen und die Faschisten. Der Impetus des Selbstopfers.

KL Wie kann ein linker Umgang mit den „eigenen" Toten jenseits eines Märtyrerkults denn aussehen?

R Ich finde da das Beispiel der russischen Immortalisten, einer Partei während der russischen Revolution, sehr rührend. Die fanden es so unerträglich, dass so viele Menschen durch Unterdrückung und im Kampf für den Kommunismus gestorben sind, ohne den Kommunismus erleben zu können. Daher haben sie sich Gedanken gemacht, wie diese Menschen im Kommunismus wieder leben können. Sie haben sich gefragt, ob man sie nicht einfrieren oder ins Weltall schießen könnte. Man muss an diesem Gedanken, dass das tragisch ist, festhalten, ohne das zu ernst zu nehmen. Denn man sollte die Leute, die gestorben sind, nicht vergessen. Zugleich sollte man sie sich aber auch nicht auf seine Fahnen malen und irgendwelche Prozessionen machen, wie das zum Beispiel die türkische Linke sehr viel macht. Aber auch dies kann wieder nicht ohne Widersprüche gedacht werden. Die einzelnen Brigaden der PKK bekommen Namen von verstorbenen Kämpfern. Damit wird jedem einzelnen Individuum versprochen: Du bist aufgehoben. Und dieses Versprechen ist ein wichtiger Grund, warum die Leute durchhalten können. Du setzt dich der Gefahr aus, und dafür bekommst du das Versprechen, dass du nicht vergessen wirst und dass es nicht umsonst gewesen sein wird. Ich glaube, so gefährlich der Märtyrerkult und die Tendenz zum Heroismus sind, so sehr kann man das nicht einfach nur abtun.

M Dazu kommt, dass das an eine ur-jüdische Tradition anschließt. So lange dein Name ausgesprochen wird, bist du noch nicht tot, bist du noch Teil des Lebens. Du gehörst noch dazu.

R Das zeigt vielleicht auch die Verzweiflung des Menschen, dass es nicht sein kann, dass jemand für immer weg ist. Die Auslöschung eines Individuums ist einfach eine unglaubliche Beleidigung für die menschliche Existenz. Das ist unverschämt. Alle möglichen Kulturen haben sich ihre Gedanken gemacht, wie man dem begegnen kann. Manche linke Traditionen knüpfen da – vielleicht unbewusst – an diese jüdische Idee, den Namen der Leute zu erhalten, an.

M Ich glaube, das ist ein allgemein menschliches Phänomen, dass auch die Linke adaptiert. Wobei gerade die Linke in Europa und Nordamerika sich nicht wirklich willens zeigt, sich mit dem Thema offen auseinanderzusetzen. Aus Lateinamerika kenne ich den Umgang der brasilianischen Linken mit dem Tod. Das ist da anders, schon im Alltag der Bevölkerung allgemein und dann auch in der Linken. Jean Ziegler beschreibt das sehr schön in dem Buch „Die Lebenden und der Tod“. Wobei diejenigen, die sich eher an der westlichen Linken orientieren, dieses Element verlieren.

KL Das heißt, aus diesem Widerspruch kommen wir auch nicht raus. Wir müssen auf der einen Seite kritisch den Märtyrerkult hinterfragen und trotzdem über das Aussprechen der Namen auch ein Gedenken offen halten.

R Das Nachdenken über den Tod ist ein Nachdenken über Widersprüche. Man kann über den Tod keine Eindeutigkeiten sagen, auch keine linken Eindeutigkeiten.

M Den Gedanken, dass Genossinnen und Genossen nach meinem Tod an mich denken werden, finde ich einen tröstlichen. Aber wo gibt es einen Raum innerhalb der Linken, wo sowas ausgedrückt wird? Da gibt es Todesanzeigen in der taz oder im Neuen Deutschland. Aber mehr gibt es da nicht. Was für ein Scheiß, eine Anzeige in der taz für 250 €. Das ist doch echt schäbig.

R Wir sind auch immer ein Teil der Gesellschaft, und die Anzahl an anonymen Bestattungen nimmt drastisch zu. Das heißt, die Leute wollen nicht mehr erinnert werden. Mir kommt gerade der Gedanke, ob das nicht auch Ausdruck einer großen Hoffnungslosigkeit ist. Eine Hoffnungslosigkeit, dass da erstens niemand mehr ist, der einen erinnern will, und dass es auch keine Zukunft gibt, in der man gerne erinnert werden möchte. Umgekehrt war das unbedingte Erinnern ein Anliegen von Leuten, die eine neue Gesellschaft bauen wollten.

KL In Bezug auf Eure These, dass der Tod das letzte große Tabu ist, haben wir innerhalb der Redaktion überlegt, ob das so stimmt. Der Tod wird ja eigentlich in den Medien immer wieder dargestellt.

R Das ist ja gerade das Verrückte, auch beim anderen Tabu, der Sexualität. Die ist allgegenwärtig und zugleich verboten. Beim Tod ist das Interessante, dass es nur ganz bestimmte Darstellungen gibt. Meistens sind das brutale, gewalttätige Mordszenen oder Geballer und Krieg.

M Die Darstellung von Tod wird immer als Schockeffekt genutzt. Da wird mit Elementen von Schrecken, Hässlichkeit und Dramatik gespielt. Auch Untote, Vampire und Zombies haben gerade Hochkonjunktur. Das ist das Gegenstück zu der Verdrängung, die zugleich stattfindet. Aber selbst mit der stärksten Verdrängungsleistung schaffst du es in letzter Konsequenz nicht, den Tod vor der Tür zu lassen. Du wirst im Alltag immer wieder mit ihm konfrontiert. Da kannst du dich nicht gegen immunisieren. Deswegen ist diese Art der Darstellung der Allgegenwärtigkeit des Todes in den Medien Teil des Verdrängungsprozesses.

KL Liegt das vielleicht daran, dass die Alltäglichkeit von Tod nicht so benannt wird?

R Philippe Ariès sagt, wir leben so, als würde niemand sterben, und unsere Städte sehen so aus, als würde niemand sterben. Es gibt keine Trauerzeit mehr, Leute tragen keine Trauerkleidung. Eigentlich funktioniert der ganze Kapitalismus nur, indem man das ständig verdrängt, indem man sich jetzt kaputt schuftet und alles, was man sich erträumt, auf ein Später verschiebt. Das funktioniert in dem Moment nicht mehr, in dem man sich bewusst macht, dass es dieses Später vielleicht nicht geben kann, dass du dein Leben jetzt leben musst. Das heißt auch, dass du dich jetzt mit deinen Bedürfnissen befassen musst. Und das steht ja in einem eklatanten Widerspruch zum Funktionieren in diesem System. Früher hat die Gesellschaft einem noch mehr Zugeständnisse gemacht, da hast du nach dem Tod eines Angehörigen mehrere Wochen bis zu einem Jahr frei bekommen. Heute bekommst du drei Tage. Im Mittelalter wurde von den Angehörigen nicht erwartet, dass sie nach dem Tod eines Familienmitglieds funktionieren. Klar, musstest du deinen Alltag geregelt kriegen und dabei kam es auch auf die Klasse an, der du angehörtest. Aber die Selbstverständlichkeit der Anwesenheit von Leichen ist etwas, was wir uns überhaupt nicht mehr vorstellen können: dass Tote besucht wurden vom ganzen Dorf, im Bett aufgebahrt, dass Kinder natürlich anwesend waren. Friedhöfe waren im Mittelalter Marktplätze, wo gefeiert wurde. Ich will nicht dahin zurück und das verherrlichen, sondern damit nur die damalige Allgegenwärtigkeit und Alltäglichkeit von Tod illustrieren. Heute sehen selbst Menschen, deren engste Verwandte sterben, den Toten nicht mehr.

KL Es hängt also vom ‚Wann‘ und ‚Wo‘ ab, wie mit Tod umgegangen wird. Der Umgang, der hier und jetzt als natürlich gilt, ist also eigentlich kulturell geprägt.

R Genau, es lassen sich nicht nur in der Geschichte Beispiele für einen anderen Umgang mit dem Tod finden, sondern auch in anderen Teilen der Welt. Es gibt zum Beispiel eine südostasiatische Gesellschaft, die ihre Toten zum Jahrestag wieder ausgräbt und mit an den Tisch setzt. Etwas für uns absolut Unvorstellbares.

KL Kommen wir zum Thema Selbsttötung. Da haben wir uns beim Lesen eurer Thesen gefragt: Wie könnte ein emanzipativer Umgang mit Suizid aussehen, der auf der einen Seite die Entscheidung von Menschen, nicht mehr leben zu wollen, respektiert, und andererseits solidarisch Menschen dabei unterstützt, aus den verschiedensten Krisen herauszukommen und sie zu überwinden?

R Wie wir in These 13 schreiben: Selbsttötung ist der maximal scheiternde größte Widerspruch gegen eine menschenverachtende Welt. Sie ist als freie Entscheidung Zeichen unserer Unfreiheit, wie sie das Elend der bürgerlichen Subjekte und das Leiden daran offenlegt. Selbsttötung ist Scheitern an diesem Leben. Wir müssen Suizid vorbeugen, so wie wir ihn in seinem Vollzug respektieren müssen.

M Es gibt keine vernünftige Antwort darauf. Das ist einfach widersprüchlich. Selbst in einer gerechteren Gesellschaft wird es immer noch Menschen geben, die müde sind. Es wird immer noch Menschen geben, die unglücklich sind. Es wird immer noch Menschen geben, die so verzweifelt sind, dass sie sich das Leben nehmen wollen. Aber es wird hoffentlich einen reflektierteren Umgang damit geben. Damit kommen wir der Sache doch näher, der Überwindung des Todes.

R Ich kann da immer nur ans Vorbeugen denken, aber zugleich ist mir bewusst, dass ich niemandem versprechen kann, dass es ihm irgendwann wieder besser geht. Denn es steht nicht in meiner Macht, hier und jetzt die Verhältnisse so zu ändern, dass er in ihnen leben kann. Ich würde sagen, eine bessere Gesellschaft wäre eine, in der auf jeden Fall die Möglichkeiten, jemanden zu unterstützen, größer sind, vielfältiger sind. Wo klar ist, nicht jedes Unglück können wir aufheben, aber vielleicht gibt es mehr Glück, das wir dem entgegenstellen können, das das Unglück ein wenig erträglicher macht.

M Ich finde das gut, dass du das so zweifelnd sagst. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, dass in Fällen von Suizidalität unsere Möglichkeiten, solidarisch zu handeln, begrenzt sind und ich warne vor Allmachtsphantasien.

R Man überschätzt sich da gerne. Suizidgedanken, egal ob man das als psychische Krankheit bezeichnet oder nicht, haben meistens was mit Depressionen oder mit Schizophrenie zu tun, und das ist nichts, was man mal eben in der WG so löst. Egal, wie eng die Struktur ist, da kommt man an die Grenzen. Aber da stellt sich dann auch die Frage, ob man es Leuten – angesichts der Tatsache, dass wir ihnen nicht helfen können und ihnen keine bessere Welt bieten können – wünschen will, dass sie in die Klapse kommen, nur um irgendwie weiter zu existieren. Steht mir das zu, diese Entscheidung zu treffen?

KL Da steht also das Leid, das wir in der realen Welt erleben, dem Tod gegenüber.

R In dem Gedicht Saldo Mortale von Erich Kästner geht es darum, dass Menschen einen Selbstmörder daran hindern, sich zu töten. Dieser klagt sie dann an, dass sie sich sein Leben lang nicht für seine Probleme interessiert haben, und jetzt, wo er sterben will, hindern sie ihn daran. Aber sobald die Krise überwunden ist, werden sie sich wieder nicht für ihn interessieren, und seine Probleme werden weitergehen. Das ist der Punkt, den ich meine. Wir können zwar einerseits Menschen unterstützen, sie in der WG aufnehmen und ihnen den Leistungsdruck nehmen. Aber das ist begrenzt, und so lange ich nicht sagen kann „Halte nur noch zwei Wochen durch, dann gibt es keinen Kapitalismus mehr!“ ist irgendwie klar, dass das Problem sich nicht wirklich löst. Ich kann den Leuten nicht die Aufhebung dessen versprechen, woran sie leiden. Das ist dramatisch und schlimm. Ich will auch nicht sagen, dass man es nicht versuchen sollte, aber man sollte sich auch klar machen, dass man es möglicherweise nicht schaffen wird.

KL Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Sara Madjlessi-Roudi. Die 16 Thesen der Gruppe sind online verfügbar.
Zitathinweis: kritisch-lesen.de Redaktion: „Das Nachdenken über den Tod ist ein Nachdenken über Widersprüche“. Erschienen in: Leben und Sterben. 35/ 2015. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1266. Abgerufen am: 25. 04. 2024 12:32.

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Von
Redaktion
Veröffentlicht am
07. April 2015
Erschienen in
Ausgabe 35, „Leben und Sterben” vom 07. April 2015
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