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Europa des Kapitals

Man sieht eine Frau mit wehenden Haaren auf einem Stier reitend und eine Flagge haltend. Das Motiv ist rot und der Hintergrund schwarz.
Buchautor_innen
Srećko Horvat / Slavoj Žižek
Buchtitel
Was will Europa?
Buchuntertitel
Rettet uns vor den Rettern
Slavoj Žižeks und Srećko Horvats Analyse „der europäischen Sackgasse“ liest sich drei Jahre nach Erscheinen aktueller denn je.

Das Buch des slowenischen Philosophen und Kulturkritikers Slavoj Žižek und des kroatischen Autors Srećko Horvat ist 2013 erschienen, in dem Jahr, in dem Kroatien der EU beitrat. Die beiden Autoren nähern sich kritisch aus dem Blickwinkel Kroatiens, Sloweniens, Griechenlands und Zyperns einem Europa, das aus ihrer Sicht als soziale Idee die schmückenden Federn verloren hat und als Wirtschaftsungeheuer Zähne zeigt. Europa als ein Projekt, das vergessen hat, was es war und was es sein könnte.

Der Band vereint verschiedene Einzelbeiträge der beiden kritischen Denker und Autoren in lockerer thematischer Reihenfolge, wobei die Fragen „was ist Europa“, „was will Europa“ und „was könnte Europa sein“ den verbindenden roten Faden darstellen. Dabei werden nicht nur Machenschaften der europäischen Eliten kritisch hinterfragt, auch die Verantwortung der Linken wird neu angedacht. Griechenland, Zypern, Slowenien und Kroatien dienen den Autoren als „Testgelände für ein neues sozioökonomisches Modell“ (S. 62), auf dem die Vision eines sozialen, solidarischen und gerechten Europa durchgespielt und gedanklich aufgebaut wird. Dabei gewinnen die Leser_innen Einblick in komplexe, teilweise absurd anmutende finanz- und wirtschaftspolitische Zusammenhänge, in den Klassenaspekt der griechischen Reformverträge und der Bankenpolitik. Und sie werden, das gehört bei Žižek dazu, über verrückte Sinnbilder auf akute Krisen aufmerksam gemacht. Die konkreten Fragen des Buches werden jedoch wenig praktisch unterfüttert, und man läuft am Ende Gefahr, genauso ratlos zurückzubleiben wie zuvor. „Indem wir Griechenland vor seinen sogenannten Rettern retten, retten wir auch Europa selbst.“ (S. 62) Klingt gut − aber wie?

„Glückliche Banker, unglückliche Gesellschaften“

Mit dem Vorwort von Alexis Tsipras mit dem programmatischen Titel „Die Zerstörung Griechenlands als Modell für das gesamte Europa“ ist einer der wenigen Texte außerhalb Griechenlands abgedruckt, die Aufschluss über die Einschätzungen und die Strategie von Alexis Tsipras geben. Er beschreibt darin unter anderem, welche Rolle Begriffe und die Sprache in der Politik spielen, wenn von der technokratischen Elite über Europa gesprochen wird. Gemeint sind Begriffe wie „Stabilisierung“, was konkret die Beschneidungen der öffentlichen Ausgaben meint und die Auflösung des Sozialstaates mit sich bringt. Oder „Reformen“, was die „Abschaffung von Tarifverträgen“ und damit die „Vereinfachung von Entlassungen“ (S. 9f.) bedeutet: ein Lockmittel, um der Wirtschaft zu erlauben, unter Kolonialbedingungen zu investieren und so den größtmöglichen Profit zu erlangen. Man muss an Gerhard Köpfs Aufsatz „Europa eint der Hass“ von 1995 denken, der darin Europa so buchstabiert: „E wie Egoismus, U wie Unduldsamkeit, R wie Rassismus, O wie Overkill, P wie Pogrom, A wie Ausländerhass. Ach Europa!“

Seit der Unterschrift von Syriza unter das Reform-Memorandum hat sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verschlechtert. Die Wirtschaft erholt sich nicht, weil Steuern nicht eingetrieben werden können von Menschen, die auf der Straße leben. Tsipras erklärt den Teufelskreis, in dem Griechenland steckt, mit einem Vergleich: Die Wirtschaft ist wie eine Kuh. Sie frisst Gras und produziert Milch. Man kann ihr nicht das Gras wegnehmen und erwarten, dass sie viermal so viel Milch produziert. Tsipras hat nicht Unrecht, wenn er sagt, dass sich Europa in zwei Lager teilen lässt: das der Herrschaft des Kapitals, ohne Regeln, Normen oder einen Plan für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, und das der „Demokratie und der gesellschaftlichen Güter“ (S. 12). Seine Lösungsvorschläge klingen deshalb auch zunächst gut: Panzerung der europäischen Gesellschaften gegen die Spekulation des Finanzkapitals, Neugestaltung des Wirtschaftswachsums und ein neues Produktionsmodell, das auf der Würde der Arbeit fußt. Vor dem Hintergrund der aktuellen griechischen „Realpolitik“ und der Lebensrealität der Griech_innen macht so viel Pathetik jedoch eher wütend.

Was will Europa?

In den folgenden Einzelbeiträgen von Horvat und Žižek und den abschließenden Gesprächen zwischen Horvat und Tsipras sowie Tsipras und Žižek werden vor allem die Rolle der europäischen Linken und der „Zusammenstoß der brutalen neoliberalen Politik mit den demokratischen Grundwerten“ (S. 117) analysiert. In dem einleitenden Aufsatz „Was will Europa“ stellt Žižek die in den folgenden Texten zentrale Frage, in welchem Europa wir leben und eigentlich leben wollen. Seine Varianten: in der amerikanischen „McWorld“-Zivilisation beziehungsweise in einer autoritären Alternative des chinesischen Kapitalismus, oder in einer wirklichen europäischen Moderne. Bei den kurzen Ausführungen zu dem System „Europa“ wird nicht ganz klar, was „Europa“ für Žižek eigentlich bedeutet. Man bekommt aber den Eindruck, dass (das westlich orientierte) Europa für Žižek mithin einzig wahre Leitkultur ohne Alternative ist. Ähnlich wie Tsipras sieht jedoch auch Žižek als Gefahr

„die Konturen eines geteilten Europas: der südliche Teil wird mehr und mehr auf eine Zone mit billiger Arbeitskraft reduziert, außerhalb des Sicherheitsnetzes des Wohlfahrtsstaates, eine Gegend, die zum Outsourcing und für den Tourismus taugt. Kurz gesagt: Der Graben zwischen der entwickelten Welt und den Hinterherhinkenden verläuft nun innerhalb Europas“ (S. 48).

Er stellt deshalb die Fragen, in welches Europa ein weiterer Staat eigentlich eintritt, und für welche Werte und Ziele die europäische Gemeinschaft (noch) steht. Heißen die zentralen „europäischen“ Werte nicht Gewinnmaximierung, wachsender Wohlstand, Konsum? Gerade in der Verteidigung dieser scheinbar „europäischen Werte“ sieht Žižek auch einen drohenden Werteverfall: Wenn „Terroristen bereit sind, diese Welt aus Liebe zu einer anderen Welt zu ruinieren, sind unsere Krieger gegen den Terror bereit, die Demokratie aus Hass auf das muslimische Andere zu ruinieren“ (S. 20).

Horvat wirft in seinen folgenden Beiträgen auf die Mythen um einen EU-Beitritt ein kritisches Licht, so dass Lügen und Täuschungen sichtbar werden. Die drei Hauptmythen um einen EU-Beitritt − „Wenn wir der EU beitreten, wird es weniger Korruption geben“ (S. 39), „wird mehr Wohlstand“ (S. 39), „wird mehr Stabilität herrschen“ (S. 41) − muten lächerlich an, wenn man auf durchaus korrupte Eliten schaut. So schildert Horvat unter anderem, wie kurz vor dem Beitritt Kroatiens in die EU die europäische Kommission eine Londoner PR-Agentur für 20 Millionen Euro beauftrage, eine Kampagne zu entwerfen, die eben dieses Scheinbild von Europa als Zukunftsvision für die Balkanstaaten installieren und damit sicherstellen sollte, dass der Beitritt Kroatiens in die EU reibungslos verläuft. Dabei hat natürlich die „Integration“ des Balkans nach Horvat schon vor zwanzig Jahren begonnen, als die ersten Banken nicht mehr dem Balkan gehörten, sondern „deutschen, italienischen und französischen Banken“ (S.28).

Was tun?

Žižek und Horvat setzen 2013 ihre ganzen Hoffnungen auf Syriza und Alexis Tsipras. Nur Syriza könne noch „retten, was vom europäischen Erbe der Rettung wert ist: Demokratie, menschliches Vertrauen, egalitäre Solidarität“ (S. 61). Wenn man in die europäische Vergangenheit schaut, fragt man sich allerdings, von welchem Erbe Žižek spricht: Rabiate Kolonialisierung, die Ausgrenzung von nicht normierbaren Gruppen, Stellvertreterkriege und bewachte Grenzen? Trotzdem: Syriza könnte, so die Hoffnung der Autoren 2013, eine neue Perspektive bringen. Wenn die Definitionsmacht von Demokratie und demokratischen Werten nur bei den oft korrupten politischen Institutionen liegt, haben andere Demokratievorstellungen keinen Raum mehr zur Verwirklichung. Was Europa braucht, sind andere, neue Perspektiven – vielleicht könnte Europa so wieder zu einem wirklichen Solidaritätsprojekt werden.

Und Europa heute? Žižek hat ein passendes Symbol für das moderne Europa: die Costa Concordia. Ein riesiger Luxus-Kreuzer, gestrandet, von innen zerfallen, der Kapitän trinkt in der Nacht des Untergangs teuren Wein und flieht dann, wie die Manager und Broker von Goldman Sachs und der Europäischen Zentralbank, als erster vom sinkenden Schiff und überlässt die Menschen ihrem Schicksal. Das Programm bzw. die Aufgabe, die Žižek am Ende formuliert: „Durch eine kritische Auseinandersetzung mit der gesamten europäischen Tradition sollte man die Frage 'Was ist Europa?' oder eher 'Was bedeutet es für uns, Europäer zu sein?' wiederholen und so einen Neuanfang formulieren.“ (S. 108f.)

Das Buch ist deshalb heute so aktuell, weil das eingetreten ist, was von Žižek und Horvat erhofft wurde: Alexis Tsipras ist seit 2015 Ministerpräsident, und mit Syriza ist erstmals eine Partei links von der Sozialdemokratie die stärkste Regierungspartei in einem EU-Land. Wichtige Koordinaten innerhalb Europas haben sich also scheinbar nach links verschoben – und trotzdem hat sich kaum etwas verändert. Der Krisenbegriff ermöglicht es einer technokratischen Elite, Einfluss auf den europäischen Wertediskus zu nehmen. Tsipras Vermutung, die Krisenbewältigung sei für die EU-Eliten ein Vorwand für die Auflösung des Sozialstaates und die Privatisierung grundlegender gesellschaftlicher Güter wie Wasser und Energie, wurde ihm bestätigt: durch ein Diktat der Auflagen zu den neuen Sparpaketen.

Srećko Horvat / Slavoj Žižek 2013:
Was will Europa? Rettet uns vor den Rettern.
Laika Verlag, Hamburg.
ISBN: 978-3-942281-68-3.
140 Seiten. 14,90 Euro.
Zitathinweis: Isabelle Holz: Europa des Kapitals. Erschienen in: Linke EU- und Europakritik. 39/ 2016. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1326. Abgerufen am: 16. 04. 2024 20:19.

Zum Buch
Srećko Horvat / Slavoj Žižek 2013:
Was will Europa? Rettet uns vor den Rettern.
Laika Verlag, Hamburg.
ISBN: 978-3-942281-68-3.
140 Seiten. 14,90 Euro.