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Notizen aus der Redaktion

Ich räume auf!

Else Lasker-Schüler: Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger [1925]. In: dies.: Der Prinz von Theben und andere Prosa. München: dtv, 1986, S. 303–351.

„Man muss die Buchschieber mal unter sich beobachten; Die Börse ist ein Kasperletheater dagegen“, schreibt die jüdisch-deutsche Autorin Else Lasker-Schüler 1925 in ihrem Essay ‚Ich räume auf!‘ Buchschieber, das sind die Verleger, denen die „Dichterlieferanten“ ohnmächtig ausgeliefert sind. Das Verlagswesen: „Bordell eines Seelenverkäufers“. Else Lasker-Schülers wütende Streitschrift über die Ausbeutungsmechanismen des Literaturbetriebs ist heute ebenso überholt wie brandaktuell. Knapp 90 Jahre später sind es nicht nur die Schriftsteller_innen, sondern auch die (zumeist kleinen) Verleger selbst, die zu „Lieferanten“ geworden sind und gegen „Buchschieber“ wie Amazon um ihre Existenz kämpfen – samt dem kompletten Einzelhandel. Tatsächlich kommt bei der Lektüre der Polemik gegen den „verdammungswürdigen Buchhandel“ ein beklemmendes Gefühl auf: Es geht um den Wert und die Wertschätzung von Literatur, und um die Arbeit von Einzelpersonen – von der Sekretärin bis zum Lektor –, die dahinter steht. Letztlich aber geht es um den Stellenwert von Kultur, und die macht sich nur selten ‚bezahlt‘.

Viele der Thesen Lasker-Schülers (etwa die gottähnliche Schöpferkraft der Dichter_innen) sind angreifbar; ihre Ideen vom ‚heiligen Tempel der Kunst‘ mithin utopisch. Und doch lohnt es, kurz zu innezuhalten, wenn sie in pathetisch-alttestamentarischem Zorn wettert: „Donnerwetter, die Sintflut über sie!“ Fragt sich heute nur: über wen? (S. B.)

Anton Reiser

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser [1785ff.]. In: ders.: Werke. Bd. 1. Anton Reiser. Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Text und Kommentar. Hrsg. v. Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2006, 1365 S., 18 Eur.

Zivilisationsskeptiker, Psychologe und Vordenker der Weimarer Klassik: Karl Philipp Moritz ist einer der vielleicht widersprüchlichsten Autoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Paradox sind auch die Begriffe, mit denen sein „Anton Reiser“ (1785ff.) in der Literaturwissenschaft verschlagwortet wird: Von Autobiografie über Anti-Autobiografie bis hin zu Armutsliteratur und Anti-Bildungsroman reicht das Spektrum.

Der als ‚psychologischer Roman‘ untertitelte Text ist die quälend detaillierte Darstellung einer an Auszehrung, Misshandlung, puritanisch-asketischer Frömmelei und gesellschaftlichem Ausschluss gescheiterten Individuation. Er ist außerdem eine exemplarische Geschichte „der durch bürgerliche Verhältnisse unterdrückten Menschheit“ (S. 400) und ein anschauliches Dokument über die Widersprüche, die die Geschichte des deutschen Bürgertums bereits in ihren Anfängen prägten.

Durch seinen hartherzigen Vater, einen pietistischen Fanatiker, zur „gänzlichen Ertötung aller sogenannten Eigenheit und Eigenliebe“ (S. 88) erzogen, wird Anton auch auf seinem weiteren Lebensweg jede Möglichkeit genommen, selbstbewusst und selbstbestimmt zu leben: Die Lehre beim kleinbürgerlichen Hutmacher L. entpuppt sich als quasi-absolutistisches, intrigantes System, in dem die „Untergebenen“ (S. 139) um die Gunst des „Gebieters“ (S. 168) buhlen. In seiner Schulzeit ist Anton von den Wohltaten diverser Gönner abhängig, was ihn nicht nur mit der buchstäblichen ‚Verwaltung‘ seiner Existenz konfrontiert, sondern ihm auch den Spott seiner Mitschüler einbringt.

„Anton Reiser“, der seinem Namen zum Trotz nie so recht von der Stelle kommt und nirgendwo ‚zu Hause‘ ist, ist eine bittere, mitunter regelrecht befremdliche und frustrierende Lektüre. Das liegt vor allem am konsequenten Verzicht auf jegliches Konzept von Mitleid oder Einfühlung. Statt einer Ich-Perspektive ist es ein nüchterner, allwissender Erzähler, der Antons Leiden kühl aus der Vogelperspektive diagnostiziert. Bis zuletzt werden keine Lösungen aufzeigt; der Roman bleibt unversöhnliches Fragment. Er lädt gerade deshalb auch heute noch zum Wiederlesen und Weiterdenken ein. (S. B.)

Schweinesystem

Christine Koschmieder: Schweinesystem. Blumenbar 2014. 320 Seiten, 20 Euro

Elisabeth ist Oberstudienrätin und langweilt sich mit ihrem champagnerlinken und daher aus Prinzip (und aus der Distanz) mit der RAF liebäugelndem Lehrer-Ehemann in der verspießten westdeutschen Provinz. Shirley mit der Angela-Davis-Frisur arbeitet in einem Massenschlachtbetrieb in Iowa und lässt sich von ihrem Freund quälen, bis sie beim Vertrieb von Mary-Kay-Kosmetik (Schneeballsystem!) zur Beauty-Beraterin aufsteigt – und auf eigenen Beinen steht. Oder nur zu stehen glaubt? „Schweinesystem“ lautet der Titel des Debütromans von Christine Koschmieder, und man kann ihn wörtlich verstehen – auf verschiedenen Ebenen. Es geht um ‚Ausschlachtung‘ und Ausbeutung, um verquaste pseudo-linke Ideologismen; nicht zuletzt auch um eine Kritik am ‚Terror‘ kapitalistischer Verwertungssysteme. Verortet wird die Doppelgeschichte der Protagonistinnen, die beide ins Visier der Geheimdienste geraten, im Kontext der 1970er und 1980er Jahre, genauer: der Anti-Rassismus-Bewegung in den USA und der Debatte um die RAF in Deutschland. Überambitioniert? Vielleicht ein bisschen. Lesenswert: Auf jeden Fall! (S. B.)

Dämmermännerung

Barbara Kirchner: Dämmermännerung. Neuer Antifeminismus, alte Leier. Konkret 2014. 93 Seiten, 12 Euro

Auf 93 Seiten betrachtet die Professorin für Theoretische Chemie eine Reihe an ärgerlichen Personen samt ihrer Argumente: von übermotivierten Sozialforscherinnen, die mittels sinnfreier Studien Karrieretipps wie ,weibliche Enthaltsamkeit in jungen Jahren‘ generieren bis hin zur „exemplarischen Exegese eines Edelsexisten“ (S. 71), dessen Beispielcharakter die Erwähnung seines Namens hier unnötig macht. Dass Kirchner in ihrem Essay eine breite Gegnerbestimmung vornimmt, also nicht nur gegen diejenigen polemisiert, die offensichtlich auf eine Verschlimmerung der gegenwärtigen Verhältnisse aus sind, sondern auch gegen die wissentlichen und unwissentlichen Apologeten und Apologetinnen des Status Quo, unterscheidet ihre Analyse von vielen existierenden Publikationen zum Thema, die vor allem Verbindungen in die extreme Rechte fokussieren. Ihre Versammlung von Beobachtungen, Studien, Vergleichen und marxistischen Schlaglichtern geht über eine Dekonstruktion von „Binsenweisheiten“ und damit über einen höflichen Antisexismus hinaus, weil sie auch danach fragt, in welchem Verhältnis die aktuelle Version des keineswegs neuen Antifeminismus zum neoliberalen Kapitalismus sowie zu Entwicklungen in der radikalen Linken steht. In ihren Mut zum produktiven Eklektizismus hätte sich der Blick auf eine neue antifeministische Subszene gut eingefügt. Deren Anhänger nennen sich „Pick-Up-Artists“, wähnen sich machtlos und formieren sich in einer Art Parallelstruktur zu den tatsächlich mächtigen Männerbünden, um Manipulation und Herabsetzung möglicher ihnen zugeneigter Frauen zu erlernen. Hätten diese Künstler Kirchners Essay gelesen, könnten sie sich damit trösten, dass alle, die auf die männlichen winners neidisch sind, wenigstens ebenfalls mit einem „schweren Dachschaden“ gesegnet sind. (H. S.)

Wir klagen an

Retzlaff/Degener/Hebisch/Beckmann/Wellstein/Hilzinger (Hg.): Wir klagen an… Tribunal gegen den §218, buntbuch 1981, 231 Seiten, vergriffen

Viele kennen und brauchen sie. Die Pille danach gibt es jetzt ohne Rezept, damit schließt sich die BRD der fortschrittlichen Praxis der Türkei an. Wie damals, als der Abtreibungs-Paragraph 218 ja quasi abgeschafft wurde, geht es nun weiter steil bergauf. Da fiel mir ein Buch in die Hände, das jemand mal achtlos auf die Straße geworfen hatte, das dokumentiert, wie Menschen Zugeständnisse auf Seiten der herrschenden Politik auch zum Anlass nehmen können, um das Faule am Kompromiss zu suchen. Das taten 1980 über 200 Frauengruppen, -zentren und -organisationen in einem „Tribunal gegen den §218“, um vier Jahre nach der Verabschiedung der erweiterten Indikationsregelung die „schikanöse Abtreibungspraxis“ (S. 11) anzuprangern und das Zusammenwirken von Kirche, Medien, Ärzten, offiziellen Beratungsstellen, Krankenhäusern und Pharmaindustrie zu analysieren – mit dem Ziel, den Paragraphen endlich abzuschaffen. Angeblich fehlende Betten in Krankenhäusern, überteuerte Überweisungen für 300 DM oder gleich die Empfehlung, nach Holland zu fahren (S. 93), die vermehrte Durchführung von Sterilisationen nach Abbrüchen (S. 133), die Zustimmung bei medizinischer und eugenischer Indikation, nicht aber bei sozialer Indikation (drohende Notlage) (S. 155) – hier hatten sich seit 1976 neue frauenfeindliche Mechanismen entwickelt. Die Abtreibung qua Fristenlösung mit Beratungspflicht war seitdem insgesamt ein Jahr lang, zwischen 1992 und 1993, nicht rechtswidrig. Den Zwang zur „Schwangerschaftskonfliktberatung“ gibt es noch heute – ob ein Konflikt vorliegt oder nicht. Legale Zwangsberatung und rechtswidriger Beratungszweck bleiben anscheinend ein Traumpaar deutscher Abtreibungspolitik. (H. S.)

Kommunismus 2.0

Martin Birkner 2014: Lob des Kommunismus 2.0. Mandelbaum Verlag, Wien. 108 Seiten, 10.00 €, ISBN: 978385476-625-4

Seit Monaten blicke ich fast täglich auf ein unauffälliges Icon auf meinem Desktop mit dem wunderschönen Dateinamen „kommunismus“. Es ist das Piktogramm einer angefangenen und nicht fertig gestellten Rezension von Martin Birkners „Lob des Kommunismus 2.0“. Die Textdatei umfasst seit Monaten ziemlich genau drei Stichpunkte − und es werden auch keine mehr hinzukommen, denn ich werde die Rezension nicht mehr fertigstellen. Das liegt freilich nicht an der Qualität des Buches. Es ist durchaus lesenswert: Ein kurzer, kenntnisreich und weitgehend mit leichter Feder verfasster Text, bei dem die Lesenden erfahren, warum das Bestehende Mist ist und nach erfolgreicher Ausmistung eigentlich nur der Kommunismus übrig bleiben sollte. Das alles hätte ich in einer Rezension schreiben können. Ich hätte wahrscheinlich schüchtern kritisiert, dass im Vagen bleibt, wer in welcher Weise eigentlich die Mistgabel betätigen soll. Die eingenommene Perspektive des Klassenkampfes als Motor gesellschaftlicher Veränderung hätte ich selbstverständlich gelobt und nicht nur deswegen das Buch von ganzem Herzen zur Lektüre empfohlen. Hätte, hätte, Fahrradkette. Die Zeiten scheinen nicht günstig für die Textdatei, da hilft auch all der erbauliche optimistische Subtext des Buches nicht. Ein gutes Dutzend weiterer Icons mit weniger schönen Dateinamen liegen auf dem Desktop: „luckepegida“, „leistungsrassismus“, „pegidamist“, „neurechts“, „nationalneoliberalismus“ und „klassenkampfvonrechts“. Ein Dilemma: Gerade jetzt müsste wieder mehr über Kommunismus diskutiert werden. (S. F.)

Sterben und Leben der grundrisse

Die lieben Genoss_innen der Wiener grundrisse haben beschlossen, ihre Zeitung sterben zu lassen. Das ist schade, immerhin stand die Zeitung für einen der wenigen Versuche, sich aus linkem Sektierertum herauszulösen und Perspektiven für eine wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt, auszuloten. Zum Jahresende hat die Redaktion nach dreizehn Jahren und 52 Ausgaben ihre Arbeit eingestellt. Geprägt durch die Diskussionen um Hardt/Negris „Empire“ wollten sie die neue Konjunktur der Debatte aufnehmen und weiterführen. Karl Reitter, Teil der Redaktion, fragte sich im September im Neuen Deutschland, ob angesichts zugespitzter Klassenkämpfe „eine liebevolle, gutmütige Zeitschrift, die allen linken Strömungen viel Platz einräumt, in dieser aufgeheizten Lage noch angemessen ist“. Insofern killte das Projekt letztlich vielleicht genau die Offenheit und Pluralität, die die grundrisse für viele zu einem außergewöhnlichen Zeitungsprojekt gemacht hatte. Aber: Die grundrisse sind tot, es leben die grundrisse: Im schönen Amerlinghaus in Wien soll einmal im Monat ein jour fix stattfinden und es soll sogar wieder Sommerseminare geben. Nähere Infos zu den post-grundrissen: Im Blog der post-grundrisse. (S. F.)

Zu den Notizen
Von
Redaktion
Veröffentlicht am
06. Januar 2015
Erschienen in
Ausgabe 34, „Marxistischer Feminismus” vom 06. Januar 2015