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Anarchismus Old School

Buchautor_innen
Hans Jürgen Degen
Buchtitel
„Das Paradies ist offen"
Buchuntertitel
Über das Elend des Individuums
Hans Jürgen Degen, einer der bewährtesten zeitgenössischen Autoren zum Anarchismus in Deutschland, legt einen neuen Beitrag zur anarchistischen Debatte vor. Aber wie viel daran ist wirklich neu?

Einerseits ist es sympathisch, sich intellektuellen Moden nicht zu beugen. Andererseits kann es auch bedeuten, wichtige intellektuelle Entwicklungen zu verpassen. Wo Hans Jürgen Degens Ausführungen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aus anarchistischer Sicht anzusiedeln sind, wird von den jeweiligen theoretischen Vorlieben der Leser_innen abhängen.

Degen ignoriert die soziologischen Studien zur Individualisierung der letzten dreißig Jahre ebenso wie die philosophischen Infragesetzungen des autonomen Subjekts bzw. Individuums. Selbst breit rezipierte Autoren wie Ulrich Beck oder Michel Foucault finden bei ihm keine Erwähnung. Auch anarchistische Diskussionen zum Thema bleiben unerwähnt, etwa Jürgen Mümkens grundlegender Beitrag „Freiheit, Individualität und Subjektivität. Staat und Subjekt in der Postmoderne aus anarchistischer Perspektive“ (2003). Degens theoretische Referenzpunkte sind jene der 1960er und 1970er Jahre: Herbert Marcuse, Erich Fromm, Christopher Lasch, Albert Camus. Einige Aussagen des Buches erscheinen so anachronistisch, dass ihnen ein gewisser Charme nicht abgesprochen werden kann. So wird das Individuum als „der absolute Mittelpunkt“ der Gesellschaft bezeichnet (S. 9) bzw. als „eine Einheit“, die nicht „in einzelne Bestandteile (…) aufzulösen“ ist (S. 13).

Degen betont: „Letztlich ist ein freies Individuum nur frei in einer freien Gesellschaft.“ (S. 7) Das ist schön. Nur: Wer würde dem widersprechen? Ein solches Credo ist kaum Anarchist_innen vorbehalten, auch Bürger_innen sehen das so. Insofern würde es zumindest einer innovativen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit bedürfen, um der Behauptung Leben einzuhauchen. Leider kommt es zu einer solchen in dem kleinen, schnell zu lesenden Büchlein von knapp 90 Seiten nicht. Stattdessen folgen ein paar weitere Wiederholungen anarchistischer Glaubenssätze, die von Erich Mühsams Aufruf zur „Befreiung der Gesellschaft vom Staat“ (S. 9) über die Feststellung, dass „die Macht des Staates alle Lebensbereiche der Gesellschaft durchsetzt und bestimmt“ (S. 54), zur Erinnerung reichen, dass „ohne Solidarität (…) der Zusammenhalt einer freien Gesellschaft nicht möglich“ ist (S. 80).

Authentizität und Anderes

Degens von kurzen, stakkatoartigen Sätzen geprägter Text wirkt oft sehr apodiktisch. Etwa wenn es um die Beschreibung des Internets und seiner Anwender_innen geht:

„Das Internet schürt Freiheitsillusionen für die Vielen: Indem die Individuen das Private öffentlich machen, entblößen sie sich. Dass sie es tun, ist schon Ausdruck ihres Manipuliertsein: Ausleben des Narzissmus in der kapitalgesteuerten narzisstischen Gesellschaft. Die narzisstische Massenentblößung als Ersatz für die pfäffische Ohrenbeichte? Die Geständnisse (oft noch mit eigenen „Steckbriefen“) entbehren nicht religiösen Gehabes. Alles das hat mit Freiheit nichts zu tun. Im Gegenteil. Wer das Private zerstört, unterwirft sich dem Diktat des Konformismus. Zugespitzt: ‚Im Internet gehe ich verloren als Mensch’ (Jeff Spalko).“ (S. 22)

Nicht viel besser als die „Internetsklaven“ (ebd.) kommen die „Marxisten-Leninisten“ weg, die als „eingeschworene ideologische Nur-Kollektivisten“ präsentiert und wie folgt beschrieben werden: „Alles ist ihnen zuwider, was nur nach Selbstdenken, nach individuellen, autonomen Entscheidungen riecht. Als Staatsfetischisten können sie nicht anders.“ (S. 65) Eine solche Charakterisierung von Marxist_innen macht es kaum leichter, den Anarchismus gegen die altbekannten Anklagen analytischer Undifferenziertheit zu verteidigen.

Zu der zentralen Frage des Buches, dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, sagt Degen wenig Falsches, aber auch wenig Neues: der „eindimensionale Mensch“ (S. 38), die „domestizierten Individuen“ (ebd.), die „atomisierte, konformistische, entsolidarisierte Gesellschaft“ (S. 10), das „Sich-Absondern-Wollen“ und „Sich-selbst-Genügen“ (S. 16) sind schlecht; Individualität als „Negation des Bestehenden“ bzw. als „Verneinung von Fremdbestimmung“ (S. 15), „authentischer Individualismus“ (S. 45), die „ursprüngliche [vor-staatliche] Gesellschaftlichkeit“ (S. 53) sind gut.

Mit deutlichen begrifflichen Oppositionspaaren hat Degen im Allgemeinen keine Probleme. So gibt es neben dem „authentischen Individualismus“ einen „Pseudo-Individualismus“ (S. 10) ebenso wie es eine „Pseudofreiheit“ (S. 36) oder auch ein „falsches Bewusstsein“ (S. 58) gibt. Selbst der „authentische Egoist“ wird dem „genormten ‚Egoisten’“ gegenübergestellt (S. 67). Warum manche Anarchist_innen bis heute meinen, den Begriff des „Egoismus“ retten zu müssen, ist mir, bei allem Respekt für die philosophischen Leistungen Max Stirners, rätselhaft. Degens Aufteilungen verschiedener Formen von Individualismus und Gesellschaftlichkeit in authentische und nicht-authentische bleiben im Übrigen unbegründet. Aber vielleicht stören sich daran nur philosophische Pedanten.

Hans Jürgen Degen hat sich in vielfacher Hinsicht um anarchistische Reflexionen im deutschsprachigen Raum verdient gemacht. Es ist erfreulich zu sehen, dass er zu diesen weiterhin beiträgt, auch wenn in „Das Paradies ist offen“ ein wenig mehr offen bleibt als das Paradies. Eine Bereicherung stellt das dem Buch beigefügte Nachwort Jochen Knoblauchs dar. Knoblauch bespricht Degens Thesen im Kontext konkreter Gesellschaftsfelder, etwa dem Sport, der Mode, dem Tourismus oder der Bio-Industrie. Diesem „Versuch über das Individuum“ ist viel abzugewinnen.

Hans Jürgen Degen 2011:
„Das Paradies ist offen". Über das Elend des Individuums.
Verlag Edition AV, Lich/Hessen.
ISBN: 978-3-86841-048-8.
98 Seiten. 10,00 Euro.
Zitathinweis: Gabriel Kuhn: Anarchismus Old School. Erschienen in: Debatten und Praxen des Anarchismus. 11/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/c/949. Abgerufen am: 28. 03. 2024 12:43.

Zur Rezension
Zum Buch
Hans Jürgen Degen 2011:
„Das Paradies ist offen". Über das Elend des Individuums.
Verlag Edition AV, Lich/Hessen.
ISBN: 978-3-86841-048-8.
98 Seiten. 10,00 Euro.