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"Der Riss der Welt geht auch durch mich"

Unter dem Zitat "Der Riß der Welt geht auch durch mich" und der zeitlichen Einordnung 1923-1966 sind die Fotografien von links Adorno und rechts Kracauer abgebildet.
Buchautor_innen
Theodor W. Adorno/ Siegfried Kracauer
Buchtitel
Briefwechsel 1923-1966
Buchuntertitel
„Der Riss der Welt geht auch durch mich“
Im Briefwechsel lebenslang verhaltener Streit: kann es Erkenntnis geben, die nicht am Ende kantianisch die Anschauung und Empfindung opfert, auf der sie doch unablösbar beruht?

Als am Ende beider Leben Adorno nach manchen Zerwürfnissen alles wieder gut machen wollte, und eine laudatio entwarf auf den “wunderlichen Realisten” Kracauer, konnte der Lobredner es sich doch nicht verkneifen, vom Gelöbnis des Geehrten zu sprechen, “glücklich zu sein”. Nach einem Vers von Stefan George. Mehr oder weniger war mit dem Lob der Vorwurf verbunden, Kracauer hätte durch Anpassung an die kapitalistische Welt seine späteren Erfolge errungen.

Von da aus - noch zarter verhüllt - im Fortgang des George-Verses die Erklärung der notwendigen Entfernung, Trennung der zwei einst fast homoerotisch verbundenen Denker: ”Verschweigen wir, was uns verwehrt ist/ Geloben wir, glücklich zu sein/Wenn auch nicht mehr uns beschert ist/ als noch ein Rundgang zu zwein.”

Darauf Kracauer:

”Was ich hier in wirklich unzweideutiger Weise beanstande, ist einzig und allein Deine den Tatsachen widersprechende Aussage, dass ich ‘sichtbaren Erfolg’ gehabt hätte von jenem Tag - vor der Berliner Epoche - an, da ich mich, wie Du meinst, mit der Welt besser verstand. Damit erklärst Du faktisch, dass jedenfalls mein sichtbarer Erfolg eine Konsequenz meiner sogenannten Anpassung an die Welt gewesen sei... En passant, wenn äußerer Erfolg ein untrügliches Zeichen der Anpassung wäre, müsste der jetzige Deine ein Höchstmaß davon verraten” (S. 676/677)

Treffende Replik. Im Lauf des Briefwechsels lässt Adorno durchblicken, wie wenig er sich um äußeren Erfolg je gekümmert habe. Fast humoristisch zu nehmende Selbsttäuschung. Man muss nur den letzten Band des Briefwechsels mit Horkheimer aufschlagen, um fast auf jeder Seite zu entdecken, mit welcher eisigen Raffinesse die beiden sich daran machten, das Feld ihrer Rezeption zu bestellen.

Kracauer-Adorno: Zwei also, die am Ende den Weg in Augenschein nehmen, den sie gegangen waren vom Frankfurt der Weimarer Republik zum Frankfurt der Adenauerzeit auf der einen Seite und nach der post-McCarthystischen Epoche auf der anderen.

Das Buch, dem wir das Wissen über diesen Weg verdanken, ist der jetzt herausgekommene Briefwechsel zwischen Adorno und dem 15 Jahre älteren Jugendfreund Kracauer.

Kracauer, in den Sechzigern mehr am Rande wahrgenommen, als Autor von Städtebildern, vor allem als Verfasser eines grundumfassenden Buchs über Photographie und Film, erst später als Autor des Romans aus den zwanziger Jahren “Ginster” noch einmal in Erinnerung gerufen. Zugleich Verfasser eines Buchs über “Offenbach und seine Zeit”

Erst nach Adornos und Kracauers Tod kam der Roman “Georg” bei Suhrkamp heraus, der gleichsam eine Stereobeleuchtung liefert dessen, was der Briefwechsel der beiden verrät. Mit zusätzlicher Tiefenschärfe des Röntgenblicks.

Woran liegt der Reiz verjährter Briefe aus grubenversunkenen Zeiten? Zunächst darin, all die verehrten Gestalten - Bloch, Benjamin, Horkheimer, Brecht - live im Licht der Mitlebenden zu entdecken, als sie alle noch unbekannt und recht gering auf Erden wuselten. Ohne viel Respekt wird von den einen über die anderen hergezogen. Adorno findet Benjamin zwischendurch mal “zum Kotzen”. Benjamins kommunistische Neigungen und seine Moskaureise werden voll Angst registriert; von Moskau zurückgekehrt, wird er im Pariser Café angetroffen, “merkwürdig schmutzig”.

Brecht ist schon damals “dumpf” für Adorno; der in Wien angetroffene Lukacs schon damals “in der üblichen Weise hämisch” (S. 80). Vierzig Jahre später werden Verhandlungen mit dem Luchterhand-Verlag abgelehnt, weil Lukacs-Verleger. In der Neuauflage eines Werks hatte damals L. den Satz vom “Grandhotel Abgrund” auf die Frankfurter Schule geprägt. Was Adorno ganz vergaß, dass er nach dem Krieg ein überangepasstes Pamphlet losließ gegen Lukacs “Erpresste Versöhnung”, in dem er Lukacs späten Aufsatz “Wider den missverstandenen Realismus” absichtlich entstellt dem pflichtmäßigen Abscheu des intellektuellen Bundesbürgers darbot. Wenn er selber ausgeteilt hatte, vergaß es Adorno sofort. Für die empfangenen blauen Flecken legte er ein eigenes Album an, zur Wiedervorlage beim Jüngsten Gericht.

All das befriedigt die postume Klatschsucht, macht aber nicht das Eigentliche dieser schriftlichen Auseinandersetzungen aus. Das Eigentliche, scheint mir, ist ein Einwand, den - erst im Alter - Kracauer in einem z.T. englisch geführten Gespräch gegen Adenauers Gesamtansatz erhebt: (12.Dezember 1960), dass nämlich Adornos Dialektikbegriff als Mahlstrom wirke, der keine anschauliche Einzelheit übriglasse, sondern alles wegschwemmt, ins Schwimmen bringt, so dass niemals etwas Festes als Verlässliches bleibt. Adorno natürlich verweist auf Kracauers mögliche “ontologische” Restbestände. Wahr ist, dass Adorno, nach durchaus von Anschauung getragenen Ansätzen etwa in seinem “Kierkegaard” oder in seinem “Wagner” immer stärker der bloßen Bewegung des auflösenden Gedankens folgt. Beziehungsweise wie in “Dialektik der Aufklärung” das eindrucksvolle Bild des an den Mast gefesselten Odysseus, der so zu seinem Sieg, aber auch Unglück der Verlockung der Sirenen widersteht, zum Stereotyp verarbeitet, das dann alle folgenden Epochen der “Tauschgesellschaft” bestimmen soll und damit vielleicht zum Bildklischee wird, aber jeden anschaulichen Bezug auf die jeweilige Epoche abwirft.

Kracauer dagegen hat seinem großen Filmbuch den Untertitel gegeben: “Errettung der äußeren Wirklichkeit”. Im Film soll mitten in einer gleichmachenden Warenwelt das Einzelne sich als zugleich bedeutend und unerklärbar wiederfinden.

So differieren die zwei Briefpartner auch in der Erklärung des Lebensschicksals Kracauers. Adorno erklärt Kracauers Niedergang bei der Frankfurter Zeitung so, dass er bis zum Januar 33 die objektiven Gründe seiner Abstoßung durch diese Zeitung nicht erkannt habe. Kracauer wurde im Januar 33 blitzschnell nach Paris versetzt - das hätte man als Schutzmaßnahme ansehen können - und einen Monat später endgültig gefeuert.

Dem konnte Kracauer ein Dokument entgegenhalten, das Adorno nie gänzlich zu Gesicht bekam: den Roman “Georg” begonnen noch während der Berliner Zeit bei der FZ, beendet im ersten Jahre des Exils. Kracauer hat zu Lebzeiten wohl mit Absicht Adorno den Einblick ins Manuskript diplomatisch verwehrt, weil die ganze Liebes-und Freundschaftsgeschichte zwischen ihm und “Fred” (Adorno) hier mit ausgebreitet wird. Es wäre dem Empfindlichen wohl unlieb gewesen, seine Launen und seine Mondänitäten hier öffentlich ausgestellt zu wissen.

Vor allem aber schildert Kracauer hier in einem Kurzdurchgang seine Erlebnisse in der damaligen Frankfurter Zeitung. Mit Artikeln dort vertreten seit 1921 wird er verantwortlicher Kulturredakteur in Berlin von 30-33.

Wie wenn es in den Jahren zwischen 1966 und 1977 geschehen wäre, schildert er den unmerklichen Weg vom Pazifismus und Salonsozialismus in den Jahren nach dem Krieg bis zur Entscheidung für das Höhere von Seiten früher Jugendbewegter auf der einen Seite, und dem Ruf nach der “Ausgewogenheit” auf der anderen, mit schärfster Absage an die wirklichen Kommunisten - bei gleichzeitiger Anbetung eines Sozialismus an sich, der aber freilich ohne alle Krassheiten des Bolschewismus auszukommen habe. Georg, Krakauers Alter Ego im Roman, wird im Kontakt mit wirklichen Kommunisten in seinen Artikeln immer radikaler. Noch im Kündigungsgespräch weigert sich Direktor Petry erbittert, ihn wegen seiner Gesinnung zu entlassen. Es geschieht, weil Georg taktlos geworden ist, zu wenig elastisch, zu wenig auf Balance bedacht.

Die Gesinnung - o Gott! - ist heilig und darf in diesen Kreisen niemals als zugegebener Kündigungsgrund figurieren.

Mit diesem Roman hat Kracauer wirklich ein Meisterstück der Analyse im Detail geliefert. Im Rückblick wird auch der Pazifismus und Sozialismus der Salons, in dem die Journalisten sich tummelten, von 1920, als so zwanghaft anpasserisch erkannt, wie die Beugung unter die wirtschaftlichen Zwänge 1930. Am eigenen Leib vollzieht hier Kracauers Georg nach, was in einem der einleuchtendsten Bücher der zwanziger Jahre sein Autor in dem Buch “Angestellte” geschildert hat: das zwanghafte Strampeln der Neuen Mittelklasse, die schon alle Merkmale der Proletarität an sich wahrnimmt, ohne sich zum Abstieg bekennen zu können.

In “Ginster”, seinem bekannteren Roman aus Krieg und Nachkrieg - 1914-18 - hatte Kracauer eine Stilmaschine angeworfen, die unaufhörlich Menschen in Dinge verwandelte, Räume in Wesenheiten. Faszinierend, aber ermüdend, weil kein lebender Mensch ausschließlich so wahrnehmen könnte.

In “Georg” nimmt Kracauer die Tendenz zur Verdinglichung nicht so unmittelbar aufs Korn, dafür aber subjektiv leidvoller. Kracauer war von Haus aus Architekt. Insofern sind seine Häuserbilder immer erdrückend und erschlagend. Vor allem die sich wiederholenden Wege im Zeitungshaus, in den alten herrschaftlichen Wohnungen der Kaiserzeit, durch Universitäten: Immer wieder muss ein Tunnel durchschritten werden, bis zum fernen Licht am Ende. Ist es überhaupt eines? Man erinnert sich an Pinocchios Weg durch den Walfisch, der ihn verschluckte: ganz klein, ganz zum Schluss das Licht, das der alte Mann, sein Vater, entzündet hat, der von dem Fisch ebenfalls verschluckt worden war, auf der Suche nach dem verlorenen Sohn. So ähnlich immer wieder das Stimmungslicht, Stimmungsdunkel in den Korridoren der Gründerzeit, in denen Kracauer sich vorwärtstastet. Nur: das Licht am Ende erlischt jedes Mal. Kracauer kommt nur bis zur Suche, nie bis zur Ankunft. Das ohne falschen Trost, immer in mitleidloser Präzision. Im “Material gearbeitet”, wie er zunehmend häufig zur Selbstkennzeichnung in den Briefen sagt. Ohne Schlussformel, aber auch ohne die herrschaftlichen Abstraktionen, mit denen Adorno sein Reich in den sechziger Jahren errichtete.

Es konnte nur hingewiesen werden auf die Elemente des unversöhnlichen lebenslänglichen Kampfes der zwei Freunde, wie sie der Briefband enthält.

Ansatzpunkte einer weiterzuführenden Diskussion: kann es Erkenntnis geben, die nicht am Ende kantianisch die Anschauung und Empfindung opfert, auf der sie doch unablösbar beruht?

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PS: Die Anmerkungen erlauben, sich im unbekannten und längst vergessenen Terrain zu tummeln. Zwei kleine Verbesserungen wären immerhin bei einer Neuauflage in Erwägung zu ziehen:

1.: S. 47 - Kassirer mit seinen Gestalten - möglicherweise verlesen für: Kassner (Rudolf). Es würde in den Zusammenhang passen. Tatsächlich hat Rudolf Kassner (1873-1959) in seinen Essays Figuren wie den Doppelgänger, den Kentauer, die Puppe als Ausgangspunkte von Perspektiven eingefügt.

2.: S. 383- halten die Herausgeber "dira necessitas" für einen Tippfehler und ersetzen irrig durch "dura". Tatsächlich ist "dira necessitas" seit Horaz ein stehender lateinischer Ausdruck und wird auch immer so gebraucht.

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Die Rezension erschien zuerst im Dezember 2008 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, ast, 12/2010)

Theodor W. Adorno/ Siegfried Kracauer 2008:
Briefwechsel 1923-1966. „Der Riss der Welt geht auch durch mich“.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-58496-5.
772 Seiten. 32,00 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: "Der Riss der Welt geht auch durch mich". Erschienen in: . URL: https://kritisch-lesen.de/c/820. Abgerufen am: 28. 03. 2024 11:55.

Zur Rezension
Rezensiert von
Fritz Güde
Veröffentlicht am
01. Dezember 2008
Eingeordnet in
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Zum Buch
Theodor W. Adorno/ Siegfried Kracauer 2008:
Briefwechsel 1923-1966. „Der Riss der Welt geht auch durch mich“.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-58496-5.
772 Seiten. 32,00 Euro.