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Die Republik vor Gericht 1954-1995

Buchautor_innen
Heinrich Hannover
Buchtitel
Die Republik vor Gericht 1954-1995
Buchuntertitel
Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts
Heinrich Hannovers Analyse seiner Anwaltstätigkeit in politischen Prozessen 1954-1974 geben Aufschluss über die Gerichtspraxis der BRD: Sie erlaubt den Vergleich gerichtsförmiger Repression mit der gewöhnlichen.

Wie es in deutschen Gerichten zuging - vor, während und vor allem nach dem KPD-Verbot - darüber gibt der erste von zwei Bänden Heinrich Hannovers Aufschluss: ”Die Republik vor Gericht 1954-1974”. Heinrich Hannover, Jahrgang 1925, war in den Jahren der Bonner Republik einer der bekanntesten Rechtsanwälte in politischen Prozessen - die es bekanntlich bei uns nie gab.

So wenig wie viele andere fing Hannover als Sozialist an. Viele Lehrmeister brauchte es, um die Augendeckel hochzuklappen. Er war nach dem Jurastudium einfach - wie viele - des festen Willens, nach dem Krieg, in dem er zwei Jahre noch als Soldat mitgezogen war, dem gerechten Recht, von dem man träumte, zum Sieg zu verhelfen. Wie simpel das Gerechte damals schien! Einfach das Gegenteil tun von dem, was zwischen 1933 und 1945 die Regel gewesen war. Unschuldsvermutung gegenüber Beschuldigten, unparteiische Zeugeneinvernahme, von keiner Rücksicht auf Mächtige beeinflusstes Urteil. Strengste Gewaltenteilung…

Der Prozess gegen eine Arbeitslosendemonstration 1953 in Bremen versetzte Hannover einen ersten Schock. Arbeitslose waren vor Weihnachten durch die Stadt gezogen und hatten eine zusätzliche Weihnachtsbeihilfe verlangt. Nach der Demo drängte ein dichter Klumpen nach Hause, wurde von der Polizei verdächtigt, sie wollten weiterdemonstrieren. Der Weg wurde gesperrt. Ex-Demoteilnehmer und Passanten stauten sich, man drängelte, Polizei zog den Knüppel. Ein vorne Stehender sollte festgenommen werden. Ein Transparententräger hinter ihm wurde angegriffen, weil er die Festnahme angeblich verhindern wollte, ließ ein Transparent fallen, bückte sich, es aufzuheben und wurde dabei durch Polizeischlag am Auge getroffen. Mit bleibendem Seh-Schaden.

So ungefähr das, was eine Kamera hätte aufzeichnen können, die leider nicht zur Stelle war. Jetzt die automatisch arbeitenden Verarbeitungsraster gleichermaßen bei der Polizei - Exekutive - wie bei der dritten Gewalt. Es war beiden nur allzu offensichtlich, dass hier ein politisch motivierter Angriff vorlag. Der ”Arbeitslosenausschuss” war - ebenfalls offensichtlich - eine Tarnorganisation der KPD; damals noch nicht verboten und mit Abgeordneten in der Bremer Bürgerschaft vertreten. Anklagepunkte vor Gericht: Widerstand gegen die Staatsgewalt und versuchte Gefangenenbefreiung.

Hannovers Notizen aus einem seiner ersten Einsätze als Pflichtverteidiger zeigen, dass die einfach scheinende Frage, wer gesehen hat, was geschehen ist, durch ganz andere überlagert wurde. Hanovers Spickzettel:

”KPD-Mitgliedschaft nicht strafbar. Anklageschrift stellt kommunistische Natur des Erwerbslosenausschusses in den Vordergrund. Stimmungmache gegen den Angeklagten. Gericht möge sich davon freihalten. Nur Gesetzesverstöße abzuurteilen, nicht KPD-Eigenschaft. Als Pflichtverteidiger keine Rechtfertigung der kommunistischen Ideale der Angeklagten zu geben, sondern nur mitzuhelfen, das Recht zu finden” (S. 44).

Alles zwei Jahre vor dem KPD-Verbot.

Grundkonstellation der meisten folgenden Prozesse. Verteidigung: Es soll über nachgewiesene Handlungen geurteilt werden, nicht über zugrundeliegende Gesinnungen. Staatsanwalt (Exekutive), Gericht, Polizei: Handlungen an sich gibt es nicht, es muss der dahinterstehende subjektive Tatbestand durchleuchtet werden. Besteht dieser in kommunistischer Überzeugung, macht er neutrale Handlung kommunistisch – und damit strafbar.

Da Antikommunismus den Missing link darstellte zwischen dem Dritten Reich und dem Vierten, die Position, auf welche die übergroße Mehrheit sich zurückgezogen hatte, fiel niemandem auf, dass diese Praxis, den Tätertyp anzupeilen (anstatt der Tat), notwendig auf verwaltungstechnische Vorsortierung lange vor dem Urteil hinauslief, also tendenziell auf Reduktion sämtlicher Justizorgane auf Vollstreckungs-Werkzeuge von Regierung und Verwaltung. Das Verfahren dann: ein mühsamer Umweg gegenüber der einfachen Einweisung in den Knast. Das sprach 1959/60 niemand anders wörtlich aus als Rechtsanwalt Posser, seinerzeit Mitglied der Sozietät Heinemann, später Justizminister von NRW. Es ging um den juristischen Kampf gegen das Friedenskomitee, das sich gesamteuropäisch gegen die Wiederaufrüstung Adenauers auflehnte.

Vergeblich bot die Gesamtverteidigung den Beweis an, dass Adenauer schon in der ersten Legislaturperiode den Amerikanern Soldaten angeboten und den Wiederaufbau einer Wehrmacht (”Bundeswehr”) zielstrebig betrieben hatte. Das Gericht setzte immer nur auf Gleichungen: Da auch Kommunisten gegen Aufrüstung waren, waren alle, die das auch waren, Kommunisten. Auf diese waren alle Erkenntnisse anzuwenden, die seit 1956 gerichtsfest waren. Posser

"steigerte sich in seinem Zorn ... zu der Bemerkung, wenn man alle unsere Beweisanträge ablehne, fände er es ehrlicher, die Angeklagten durch Verwaltungsakt ins Konzentrationslager einzuweisen, statt uns Verteidiger als rechtsstaatliches Dekor zu missbrauchen” (S. 67).

Worin liegt trotz allem der Vorteil der gerichtlichen Behandlung gegenüber der umschweiflos polizeilichen? Antwort: im beiderseitigen Sprachzwang. Solange Öffentlichkeit der Sitzung und halbwegs freie Berichterstattung gewährleistet sind, kann die Öffentlichkeit trotz allem die Argumente prüfen. Position des Gerichts: Es sei ”offenkundig, dass die Bundesregierung die friedliche Koexistenz nicht ablehne”, daher Beweisanträge unnötig. Die Position der Verteidigung und der Angeklagten: Es müsse anhand von Dokumenten befürchtet werden, dass die Bundesregierung sich der Roll-back- und Containment-Politik der USA anschließe. Der aufmerksame Zuschauer des Verfahrens wird dann immerhin darauf gestoßen, dass etwas mit aller Gewalt unter dem Teppich gehalten werden soll. Es liegt dann an ihm, es darunter zu suchen und vorzuholen. Wäre der Vorteil eines gerichtlichen Verfahrens also gegenüber dem von Posser vorausgesehenen ”administrativen” vor allem Weckung der Aufmerksamkeit. Polizeigewalt in ihrer schamlosen Stummheit erlaubte dagegen nicht einmal den Umkehrschluss: Der wird verknastet, also ist er unschuldig.

Dieselbe Methode zeigte sich im Prozess gegen den Mitgründer der Deutschen Friedensunion Lorenz Knorr von 1963- 72 (!). Als Adenauer zum Aufbau der Bundeswehr auf bewährte Generäle Hitlers zurückgriff - Speidel, Heusinger, Foertsch, Kammhuber, Admiral Ruge - bezeichnete Knorr in einer Rede von 1961 sie als ”Hitlergeneräle” und ”Massenmörder”. Im darauf folgenden Prozess wollte er gegen die Anklage der Beleidigung den Wahrheitsbeweis führen. Wieder wurde das abgeschmettert mit der Begründung, gegen ein bloßes Unwerturteil - ”Schmähkritik” - sei kein Wahrheitsbeweis möglich. Riesiges Material, von Knorr zusammengetragen, zum Teil aus den Anklageschriften des Nürnberger Prozesses übernommen, fiel unter den Tisch.

Die Strafkammer Wuppertal (zweite Instanz) brachte es auf den Punkt: Es komme dem Angeklagten offenbar darauf an,

”vor der Öffentlichkeit im Gerichtssaal als ‘Ankläger’ der von ihm Beleidigten aufzutreten und damit ein politisches Ziel zu erreichen, nämlich den Anschein zu erwecken, dass die Führungsspitze der Bundeswehr das deutsche Volk wieder einer Katastrophe entgegenführt” (S. 136).

Klarer lässt es sich nicht sagen! Genau das wollte Knorr - und das Gericht wollte es nicht. Wieder die Chance der Aufmerkenden, das so offenbar Begrabene mit eigenen Händen auszuscharren.

Hannover weist immer wieder auf Kontinuitäten hin zur Zeit des Nationalsozialismus. Sowohl dem Wortlaut von Gesetzen nach - ”Heimtückegesetz” 1934 - wie dem agierenden Justizpersonal - wie der Auslegungstechnik - weil Du X sagst, die Kommunisten auch X, bist Du Kommunist.

Unausgesprochen ergibt sich aus den dargestellten Verhandlungen aber auch der Unterschied zur Zeit von 1933-45. Auch die größten Nazis hatten aus 1945 etwas gelernt. Sie fühlten sich hereingelegt und vom Führer betrogen, waren dabei aber immer bereit, aus Hitlers letztem Gedanken die Folgerung zu ziehen: Der Stärkere hat recht. Also schloss man sich willig dem Stärksten an - dem Westen unter Führung der USA. Insofern zeigte sich die gesamte herrschende Klasse bereit, rechtzeitig die Bremse zu ziehen. Die meisten, die bis 1941 "Hurra!" geschrien hatten, erkannten im Rückblick, dass sie die abschüssige Fahrt nach unten damals nicht mehr hatten bremsen können. Nicht rechtzeitig, um noch zu einem Auskommen mit den Mächtigen der Restwelt zu gelangen. Von daher der Wille zur Bremse.

Gerade am Prozess Knorr wird es deutlich. Bis jetzt - an die fünfzig Jahre später - ist die Katastrophe nicht
eingetreten, die er vorausgesagt hat. Nach dem KPD-Prozess gab es zwar Tendenzen - zum Beispiel beim damaligen Innenminister Schröder (CDU), eine Massenverfolgung zu starten bis hin zum ehemaligen Parteikassierer in Renchen oder dem Flugblattverteiler in Regensburg, aber er setzte sich gegen den Justizapparat nicht durch, der - antikommunistisch wie Schröder - die Verstopfung der Gerichte für Jahre voraussah - oder eben die administrative Einweisung ins Internierungslager. Und davor scheute man zurück. Die Bremse griff. Das selbe bei den Notstandsgesetzen. Es handelte sich darum, die Restopposition der SPD zu zwingen, ihrem eigenen potentiellen Todesurteil zuzustimmen. Der Akt der Unterwerfung genügte. Alle Unterdrückungsmaßnahmen seither hatten es nicht nötig darauf zurückzugreifen: nicht Verteidigerausschluss in Stammheim, nicht Isolationshaft. Die Fiktion, es gebe keine politischen Prozesse, keine politischen Gefangenen, wurde aufrechterhalten. Vernichtung ging als geringfügige Schärfung des Gewöhnlichen über die Bühne. Genau so bei den Berufsverboten. Man gab sich mit dem Brechen geistigen Rückgrats zufrieden, das körperliche blieb heil.

Das ganze Wirken Hannovers war nur möglich in einer Bundesrepublik, die die Kunst gelernt hatte, ganz kurz vor dem Abgrund zu stoppen. Bis jetzt.

In den siebziger Jahren wurde das Feindbild “Kommunist” modernisiert, teilweise ersetzt durch “Terrorist”. Unter Beibehaltung der bisherigen Unterstellungen: Wer Kontakt zu Terroristen hat, ist selber einer, zumindest “Sympathisant”. Insbesondere traf das Verteidiger von “Terroristen”, die pauschal als Terroranwälte klassifiziert und entsprechend behandelt wurden. Auch unser verdienstvoller Ex-Innenminister Schily stand einmal mit aufgeknöpftem Hosenlatz vor den Leibesvisitations-Beamten.

Hannover hat zeitweise Ulrike Meinhof verteidigt, in der Zeit, die sie in Köln-Ossendorf im Toten Trakt in Untersuchungshaft saß. Er sah sich zu folgender Presse-Erklärung genötigt:

"Sicher sind diese Maßnahmen gedeckt durch die Untersuchungshafts-Vollzugsordnung, aber sie sind nicht notwendig und nicht geeignet, um den Zwecken der Untersuchungshaft zu dienen, also eine Flucht zu verhindern und eine Verdunklung zu erschweren, sondern sie haben hier offensichtlich die Funktion, die Persönlichkeit unserer Mandanten zu zermürben, und stellen sich damit als verfassungswidrige Folter dar" (S. 403).

Benennungen und Definitionen sind keine Frage der Wahrheit an sich, sondern der Zweckmäßigkeit. Ihre Angemessenheit sollte sich daran messen, welche Zusammenhänge und welche Verknüpfungen sie erlauben. Gegen die Verwendung des Wortes "Folter" spricht, dass dann keine Bezeichnung mehr übrig bleibt für unmittelbaren Zugriff auf den menschlichen Körper, dem in der Regel noch weniger zu widerstehen ist als dem vermittelten durch Isolation. Die Aussageabsicht Hannovers liegt aber mit und ohne Verwendung des Terminus "Folter" auf der Hand. Sie geschah in dringend nötiger Wahrnehmung der Interessen seiner Mandantin. Er wurde wegen seines Sprachgebrauchs vor das Anwaltsstandesgericht gezogen und kam mit einer Geldstrafe von 3000 DM davon, die er schließlich nicht zahlen musste. Die damalige Erkenntnis wurde inzwischen zugeschüttet.

Vor allem Gerd Koenen, aber auch andere in ihren letzten Büchern, haben zeitgenössische Aussagen über die Schäden der Isolationshaft als Wahn oder böswillige Erfindung hingestellt. Niemand sollte zermürbt, nie geschadet werden. Nur ein Detail eines unmerklichen Löschungsvorgangs, der die Erinnerung an den Streit von damals beseitigen will - bei gleichzeitiger Erregung über die Zustände in den gerichtsfreien Internierungsanstalten der USA. Auch da wird gestritten, ob die Bezeichnung “Folter“ Platz greifen darf oder nur “Auferlegung unbequemer Körperhaltungen”. An der Verwerflichkeit der Maßnahmen ändert das nichts.
Das nur ein einziges Beispiel von heute.

Dem Selbstlob der GRÜNEN und ihresgleichen widersetzt sich das Buch Hannovers entschieden. Sie rühmen sich - Vollmer, Fischer oder Bütikofer -, sie hätten die Republik 68 umgegründet, zivil gemacht, quasi zu sich selbst gebracht. Was die Justiz angeht, ist davon kein Wort wahr. Die Begründungsformen, die richterliche Rechtfertigung polizeilicher Maßnahmen, die Schlussfolgerungs-Technik (”wer so denkt, der lehrt so, der handelt so”) - für so manches, was Hannover aus den fünfziger und sechziger Jahren berichtet, ließen sich Beispiele aus der Gegenwart auftreiben. Das heißt: das Kampffeld bleibt offen. Selbstzerstörung ist immer noch möglich.

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Die Rezension erschien zuerst im September 2006 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, ps, 01/2011)

Heinrich Hannover 2005:
Die Republik vor Gericht 1954-1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts.
Aufbau Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-7466-7053-9.
960 Seiten. 16,90 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: Die Republik vor Gericht 1954-1995. Erschienen in: . URL: https://kritisch-lesen.de/c/750. Abgerufen am: 20. 04. 2024 16:08.

Zur Rezension
Rezensiert von
Fritz Güde
Veröffentlicht am
01. September 2006
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Heinrich Hannover 2005:
Die Republik vor Gericht 1954-1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts.
Aufbau Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-7466-7053-9.
960 Seiten. 16,90 Euro.