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Grenzlinien im Sand

Buchautor_innen
Sabine Hark / Paula-Irene Villa (Hg.)
Buchtitel
Unterscheiden und herrschen
Buchuntertitel
Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart
Wie können feministische Kämpfe heute geführt werden? Überlegungen zu einem Denken in Differenz rund um „Köln“.

Das Jahr 2017 war wiedermal ein hartes Jahr für den Feminismus. Wieder wurden Linien im Sand gezogen – diesmal sozusagen im eigenen Lager: zwischen Alice-Schwarzer-Feminist_innen und Verfechter_innen der Gender Studies. Während es hier verschiedenste Dreh- und Angelpunkte für Grabenkämpfe gibt, so scheint doch die Debatte um die Chiffre „Köln“ einen zentralen Brennpunkt zu bilden – auch jenseits der Debatten um den „richtigen“ Feminismus. Der Titel „Unterscheiden und Herrschen“ von Sabine Hark und Paula-Irene Villa verleiht den feuilletonistisch ausgetragenen Kämpfen eine dringend notwendige analytische Tiefe.

Jenseits medialer Verkürzungen

Fokus des Essays sind die Geschehnisse rund um „Köln“. Die Chiffre steht für die Vorfälle der Silvesternacht 2015, die mit der Stadt synonym geworden sind. Es geht um „die Nacht, die alles veränderte“, wie es aus den Medien schallt. Immerhin: Erstmals wird großflächig und öffentlich über sexualisierte Gewalt, über ein veraltetes Strafrecht und über die Frage nach einer feministischen Nation debattiert. In diversen Städten, hauptsächlich aber in eben dieser, Köln, erlitten Frauen in der Silvesternacht sexualisierte und gewalttätige Übergriffe, ausgeübt von „Nafris“, „Moslems“, von „Migranten“. In den Monaten nach den Übergriffen verschärft sich der Ton in der Flüchtlingspolitik. Die Zeitungen berichten von „Sex-Mobs“ und falscher Toleranz, die in Blindheit umgeschlagen sei.

Eben diese Verallgemeinerungen, die flapsig durch die Medienlandschaft fliegen, wollen Hark und Villa vermeiden. Stattdessen soll das Essay den Verflechtungen zwischen Sexismus und Rassismus, der Frontenbildung zwischen diesen Positionen und der verschiedensten Diskurse um „Köln“ eine kritische Auseinandersetzung bieten. Hark und Villa identifizieren mit Bezug auf Ernesto Laclau und Chantal Mouffe „Köln“ als „Knotenpunkt“, der sprachliche und nicht-sprachliche Elemente, Diskurse und Praktiken so anordnet, dass gewisse Subjektivierungsangebote und Solidarbeziehungen erkennbar werden. Mit „Köln“ wurde eine Gelegenheit ergriffen, „die gesellschaftlichen Grenzlinien neu zu ziehen“ (S. 77). Doch wer konnte diese Gelegenheit wie nutzen? „Köln“ wird zur Fixierung machtvoller Sprecher_innenpositionen in einem xenophoben Sicherheitsdiskurs, dem die Autorinnen dringlich etwas entgegenzusetzen haben.

Im Streitgespräch mit Alice Schwarzer und Judith Butler

Hark und Villa nutzen den Anfang des Buches als theoretische Standpunktorientierung. Sie verorten sich mit ihren Überlegungen zwischen postkolonialer Kritik, feministischer Theorie, Sprachphilosophie und agentiellen Positionen wie den Science and Technology Studies oder der Akteur-Netzwerk-Theorie. So bekennen sich Hark und Villa zwar deutlich zu einem akademischen Duktus, das Buch bleibt aber trotz wiederholter Rückgriffe auf viele dieser Positionen weitestgehend auch fachfremden Leser_innen zugänglich. Mit Vorsicht und Geduld tragen die Autorinnen ihre Kritik an vorherrschenden Diskursen zu „Köln“ vor und werden dabei nicht müde, potentielle Angriffe vorwegnehmend zu entkräften. In ihrer Kritik an den dominierenden Diskursen weisen sie deren Lücken auf und betonen, dass Gewalt an Frauen auch ohne rassistische Ressentiments kritisierbar sein muss. Zwar kommen auch bei ihnen die Opfer von Köln nicht zu Wort – eine Leerstelle, auf die sie bereits zu Beginn des Textes hinweisen – es wird jedoch über verschiedene Positionen zur Opferhilfe nachgedacht, die über den omnipräsenten Diskurs eines verschärften Strafrechts hinausgehen, wie beispielsweise Therapieangebote, den Ausbau von Infrastrukturen zur Gewaltprävention und Frauenhäuser. So wird auch auf das Bündnis ausnahmslos hingewiesen, welches sich frühzeitig nach den Ereignissen in „Köln“ formierte, um gegen die Vereinnahmung feministischer Positionen für rassistische Ressentiments vorzugehen.

Eine explizite Kritik dieser Vereinnahmungen erfolgt zunächst an Alice Schwarzer. Ihr Feminismus wird als „toxisch“ dezidiert abgelehnt. Eine Kritik, die zum Erscheinungsdatum von „Unterscheiden und Herrschen“ durch eine öffentlich ausgetragene Debatte erneut unterstrichen wird. In der Zeit liefern sich Schwarzer, Sabine Hark und Judith Butler harte Worte. Dennoch, im Essay wird klar unterschieden zwischen der Position Schwarzers und solcher, die beispielsweise die Frauen der AfD einnehmen, oder die konservativ-katholische Publizistin Birgit Kelle. Diese Positionen benennen sie mit Sara Farris und in Anlehnung an Jasbir Puars Konzept des „Homonationalismus“ (Puar 2007) als „Femonationalismus“ (Farris 2011). Damit ist vor allem die zunehmende Islamfeindlichkeit im Namen des Schutzes der Frauenrechte gemeint – eine Indienstnahme, die vor allem zur Sicherung des europäischen Grenzregimes in den Staatsapparat eingebaut wird, aber mit „Köln“ zunehmend aggressiver und populistischer als „Rechtfertigung des Vorrangs europäischer Kultur“ (S. 87) propagiert wird. An dieser Stelle wird auch nochmal explizit auf die Grenze zwischen „Feminismus“ und „Gender“ eingegangen, die von Schwarzer-Feministinnen und Konservativen forciert wird als gäbe es von jedem nur die eigene beziehungsweise eine Variante. Stattdessen plädiert das Buch für ein Bedenken der Pluralität, die solchen umkämpften Begriffen stets innewohnt. Die Kritik der Autorinnen gilt hauptsächlich den Verallgemeinerungen, die in öffentlichen Diskursen stattfinden und damit oftmals verletzende Wirkung haben. So lautet schließlich auch die zentrale Frage: „Wie über Spezifika und Kontexte so sprechen, dass Differenzen benannt und ernst genommen, aber nicht verabsolutiert werden“ (S. 105)?

Umkämpfte Grenzziehungen

Im Versuch, diese Frage zu beantworten, bieten die Autorinnen zum Ende des Buches ein intimes Gespräch, in dem sie sich explizit positionieren, gleichzeitig aber die Unmöglichkeit von Identitätsfestsetzungen beschreiben. So erläutert Villa, wie scheinbar klare Differenzen stets durch „umkämpfte Differenzierungen“ (S. 113) entstehen, die in ihrer Komplexität nicht greifbar sind. Als Beispiel dieser Komplexität nennt Hark dazu ihre eigene Position als „Deutsche“, die dennoch gewisse „Migrations- und Fremdheitserfahrungen“ (S. 115) gemacht hat: als Saarländerin, deren Eltern vor dem Beitritt des Saarlandes in die Bundesrepublik geboren und damit strenggenommen zugewandert sind, als erste in der Familie, die Abitur macht, als weiße cis-Frau, die aber ein lesbisches Leben führt. Damit verweist sie auf die rassialisierte Wahrnehmung eines Fremdheitsdiskurses und auf die Komplexität einer Gleichzeitigkeit von Zugehörigkeit und Entfremdung. Schüler_innen Judith Butlers werden diese und andere Gleichzeitigkeiten ebenso bekannt sein, wie Leser_innen der Kritischen Theorie. Beide gedanklichen Strömungen kommen hier, aber auch sonst im Buch zum Zuge. Das Auseinanderfallen von Begriff und Sache sowie die Differenz, die einer Identität immer innewohnt – sprich, das nicht ganz Aufgehen der Lebensweisen in der zugewiesenen Identität – sind stets aufs Neue auszuhandeln, juristische Kategorien von gelebten Realitäten zu unterscheiden. Und da dieses Verhältnis von Differenz und Gemeinsamkeit schier unauflösbar erscheint, ist die einzige Lösung – wenn es denn eine ist – das Denken in Differenz: „Differences inside me, lie down together“, wie Audre Lorde 1988 schrieb.

In diesem Sinne formulieren auch hier die Autorinnen den Wunsch nach einer neuen Ethik. Eine Ethik, die fordert, anders regiert zu werden, während sie die eigene Komplizenschaft im Regierungsapparat anzuerkennen versucht. Das Buch adressiert, wie Lebensweisen stets in Über- und Unterordnungen strukturiert werden und wie diese Verortungen unser Fühlen und Handeln beeinflussen. So ist es ein Plädoyer fürs Zuhören und für das ständige und entschiedene Auseinandersetzen mit und diskutieren über Positionen, die anders sind, als die eigenen. Zugleich ist es ein erneuter Versuch einer Kartographie der Verflechtungen von Sexualität, Rasse, Geschlecht in zunehmend transnationalen Geschehnissen. Der Text setzt sich somit all jenen Stimmen entgegen, die versuchen, Grenzen zu ziehen.

Zusätzlich verwendete Literatur

Puar, Jasbir (2007): Terrorist Assemblages. Homonationalism in Queer Times, Duke: Durham/London.
Farris, Sara (2011): Die politische Ökonomie des Femonationalismus, in: feministische studien #2.
Lorde, Audre (1988): A Burst of Light. Firebrand: Ithaka/New York.

Sabine Hark / Paula-Irene Villa (Hg.) 2017:
Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart.
Transcript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 9783837636536.
173 Seiten. 19,90 Euro.
Zitathinweis: Sara Morais dos Santos Bruss: Grenzlinien im Sand. Erschienen in: Marx!. 46/ 2018. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1460. Abgerufen am: 20. 04. 2024 16:20.

Zum Buch
Sabine Hark / Paula-Irene Villa (Hg.) 2017:
Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart.
Transcript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 9783837636536.
173 Seiten. 19,90 Euro.