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Kämpfe um Recht

Buchautor_innen
Sonja Buckel
Buchtitel
"Welcome to Europe" Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts
Buchuntertitel
Juridische Auseinandersetzungen um das „Staatsprojekt Europa“
Sonja Buckel entwickelt in ihrer umfangreichen wie lesenswerten Studie eine Untersuchungsperspektive, mit der sich Kämpfe um Hegemonie im europäischen Migrationsrecht sichtbar machen lassen.

Gegenwärtige europäische Migrationspolitiken verknüpfen zutiefst widersprüchlich erscheinende Institutionen und Praktiken, so etwa zu „Willkommenszentren“ umfunktionierte Ausländerbehörden, in denen sogenannte Hochqualifizierte umworben werden, sowie mit Stacheldraht aufgerüstete Grenzverläufe, die unerwünschte Migrant_innen auf ihrer Reise nach Europa aufhalten sollen. Hinter diesen Praktiken verbirgt sich, so Sonja Buckels Hypothese, das politische Projekt des Migrationsmanagements, in dem sich der „Wettbewerb um die besten Köpfe“ flexibel mit dem „Kampf gegen illegale Migration“ verbindet. Quer dazu verlaufen Politiken und Aktionen von Aktivist_innen aus der No Border-Bewegung, die die utilitaristische Unterteilung in nützliche und weniger nützliche Migrant_innen zurückweisen und für eine tatsächliche Willkommenskultur jenseits nationaler oder europäischer Zugehörigkeiten eintreten. Hinzu tritt schließlich die Bewegung der Migration selbst, die keinesfalls ein bloßes „Steuerungsobjekt“ (S. 201) ist, sondern vielmehr mit ihren „immer wieder angepassten Reiserouten“ (ebd.) Fakten schafft, welche die europäischen Grenzkontrollapparaturen unter Zugzwang setzen.

Diese gegensätzlichen Praktiken dienen Buckel als Ausgangspunkt und Hintergrundfolie für ihre Beschäftigung mit den rechtlichen Auseinandersetzungen um die Europäisierung der Migrationspolitik, die sie mithilfe einer hegemonietheoretischen Diskursanalyse des Rechts in Verbindung mit dem Konzept der Hegemonieprojekte in den Blick nimmt. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen zwei Fallstudien, die sich mit zwei hochaktuellen Fragen aus dem europäischen Migrationsrecht befassen: zum einen mit der Gewährung sozialer Leistungen für nicht erwerbstätige Unionsbürger_innen und zum anderen mit dem Umgang mit Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen im Mittelmeer. Während der erste Teil der Untersuchung sich auf die Konstitution eines europäischen Innenraumes unbeschränkter Mobilität konzentriert, fragt der zweite Teil nach der Konstruktion des Außen: Beleuchtet werden die „Immobilisierungsstrategien“ (S. 167), mittels derer versucht wird, Menschen aus Ländern außerhalb der EU aus dem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ auszuschließen.

Beginn einer europäischen Sozialpolitik?

In der ersten Fallstudie geht es zentral um die Frage, wie sich zwischen 1998 und 2009 überraschend eine europäisch-soziale Rechtsprechungslinie des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) herausbilden konnte, in der die mit dem Vertrag von Maastricht eingeführte Institution der Unionsbürgerschaft mit einer Bedeutung ausgefüllt wurde, die weit über den Status des „Marktbürgers“ hinausgeht. Anhand von insgesamt zwölf Urteilen des EuGH und der entsprechenden Kommentarliteratur arbeitet Buckel heraus, wie sich in den Auseinandersetzungen um die sozialen Rechte Nichterwerbstätiger schrittweise proeuropäische Strategien durchsetzen und das zuvor hegemoniale Binnenmarktprojekt ablösen konnten. In dem abseits von der politischen Öffentlichkeit geführten rechtlichen Diskurs entstand in den „Ruinen“ (S. 166) der neoliberalen Hegemonie das gegenhegemoniale Projekt einer europäischen Sozialunion. Die Tatsache, dass alleinerziehende Mütter, Arbeitssuchende und Arbeitslose, Studierende und sogar ein von der Heilsarmee unterstützter Obdachloser nicht länger als „migrantische Bittsteller*innen“ (S. 83) auftreten müssen, sondern sich als Unionsbürger_innen auf ihre sozialen Rechte berufen können, bewertet Buckel optimistisch als Indiz dafür, dass „im europäischen Staatsprojekt gravierende Transformationen im Gange [sind], die eine Art beginnende europäische Wohlfahrtsstaatlichkeit markieren“ (ebd.). Zugleich zeigt ihre Analyse aber auf, dass eine rein rechtliche Auseinandersetzung, die nicht von einer politischen Mobilisierung und von sozialen Kämpfen begleitet wird, nicht dazu imstande ist, grundlegende Strukturprinzipien wie das Wohlstandsgefälle innerhalb der EU aufzuweichen oder die Entwicklung einer europäischen Sozialpolitik einzuleiten. Nichtsdestotrotz werden die sozialen Rechte der Unionsbürger_innen zu „strategisch-selektiven Möglichkeitsstrukturen“ (S. 166), die gerade im Zuge der Krise eine neue Dynamik entfalten könnten:

„Wenn nämlich Unionsbürger*innen aufgrund der Verwerfungen, die vom Wohlstandsgefälle und der europäischen Krisenpolitik ausgelöst werden, ihren Aufenthalt tatsächlich in die nördlichen und westlichen Mitgliedsstaaten verlegen, könnte dies eine gewisse vertikale Umverteilung [...] nach sich ziehen“ (S. 167f.).

Fragmentierte Terrains des transnationalen Rechts

Die Auseinandersetzungen um die Verrechtlichung der europäischen Seegrenze, die Gegenstand der zweiten Fallstudie sind, unterscheiden sich in mehrerlei Hinsicht von den Kämpfen um transnationale Rechte innerhalb der EU. Hinsichtlich der extraterritorialen Geltung menschenrechtlicher Normen gibt es momentan keine gefestigte Rechtsprechungslinie, vielmehr existieren „konkurrierende Rechtsprechungen auf unterschiedlichen fragmentierten Terrains des transnationalen Rechts“ (S. 78). An den Grenzen der EU, wo verschiedene nationale, europäische und internationale Rechtsordnungen aufeinander treffen, fehlt es an einer übergeordneten Instanz, die das Verhältnis dieser Rechtsordnungen zueinander regelt. Dieses Verhältnis wird daher erst in hegemonialen Auseinandersetzungen bestimmt. Buckel dokumentiert im zweiten Teil ihrer Untersuchung ausgehend von zwei konkreten Fällen staatlicher Rückschiebungsmaßnahmen die ersten Schritte eines „juridischen Aktivismus“ (S. 79), dessen Protagonist_innen das Ziel verfolgen, die Grenzschutzoperationen der EU vor der nord- und westafrikanischen Küste rechtlich einzuhegen.

Die untersuchten Fälle „Marine I“ und „Hirsi vs. Italien“ haben gemein, dass jeweils in Seenot geratene Bootsmigrant_innen auf hoher See von europäischen Schiffen aufgegriffen, zurückgeschoben und schließlich in Lagern außerhalb der EU interniert wurden, ohne dass ihre internationale Schutzbedürftigkeit geprüft wurde. „Marine I“ ist der Name eines Frachters, der im Januar 2007 vor der westafrikanischen Küste von einem spanischen Rettungsschiff in eine mauretanische Hafenstadt geschleppt wurde; im Fall „Hirsi vs. Italien“ wurden im Mai 2009 Migrant_innen von einem italienischen Kriegsschiff aus dem zentralen Mittelmeer zurück nach Libyen geschoben. Was sich in den beschriebenen Fällen ereignet hat, lässt sich nur vor dem Hintergrund des politischen und ökonomischen Kontexts der Funktionsweise des europäischen Grenzregimes verstehen. Das Verhältnis zwischen Europa und Afrika, welches durch koloniale Kontinuitäten, massive ökonomische Ungleichheiten sowie Strategien des „Outsourcing“ und „Offshoring“ (S. 188) von Grenzkontrollen geprägt ist, drückt sich geradezu idealtypisch in einer zum Gefängnis für festgenommene Migrant_innen umfunktionierten mauretanischen Fischverarbeitungsfabrik aus. In dieser wurde ein Teil der Passagiere der „Marine I“ über Monate interniert:

„Die Anlage zur Fischverarbeitung, ein afrikanisches Unternehmen, das aus dem Fischfang ökonomischen Nutzen für die mauretanische Ökonomie hätte ziehen können, war aufgrund des massiven Konkurrenznachteils gegenüber den subventionierten EU-Betrieben geschlossen worden. [...] Nun diente die Ruine als extraterritoriales Lager zur Immobilisierung der postnationalen Subjekte“ (S. 251).

Beide Rückschiebungsmaßnahmen zogen juristische Verfahren nach sich, in denen Flüchtlingsrechtsaktivist_innen versuchten, die spanische beziehungsweise die italienische Regierung für ihr Handeln auf hoher See zur Verantwortung zu ziehen. Während der vom spanischen Flüchtlingsrat beschrittene nationale Verwaltungsrechtsweg bislang ohne Erfolg blieb und eine beim UN-Ausschuss gegen Folter eingereichte Beschwerde gegen Spanien aus formalen Gründen scheiterte, war die Individualbeschwerde, die 24 der nach Libyen zurückgeschobenen Migrant_innen mit Unterstützung des italienischen Flüchtlingsrats beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichten, erfolgreich. Das Gericht erklärte die Push-Back-Operation für unrechtmäßig und verpflichtete Italien, den Betroffenen eine finanzielle Entschädigung zu zahlen. Einen Erfolgsfaktor im Fall „Hirsi vs. Italien“ sieht Buckel in der Existenz eines starken Netzwerks von nichtstaatlichen flüchtlingsrechtlichen Akteur_innen in Italien; eine Schwäche im Vorgehen gegen die spanische Regierung erkennt sie unter anderem darin, dass es den beteiligten Akteur_innen nicht gelang, ihre jeweiligen Strategien zu bündeln. Hier zeigt sich, dass die Ergebnisse juridischer Auseinandersetzungen maßgeblich durch außerrechtliche Ressourcen und Kräfteverhältnisse beeinflusst werden.

Wer sich für die Frage interessiert, wie sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse ins Recht übersetzen und wo sich möglicherweise Anknüpfungspunkte für ihre Verschiebung ergeben, dem_der sei „Welcome to Europe“ empfohlen. Neben den eigentlichen Ergebnissen zu Kämpfen um Hegemonie im Recht vermittelt die Untersuchung sozusagen beiläufig und auf höchst anschauliche Weise zahlreiche Informationen über das europäische Grenzregime und die ihm zugrunde liegenden Machtverhältnisse. Auch das macht sie äußerst lesenswert.

Sonja Buckel 2013:
"Welcome to Europe" Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts. Juridische Auseinandersetzungen um das „Staatsprojekt Europa“.
transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-2486-1.
372 Seiten. 33,80 Euro.
Zitathinweis: Katharina Schoenes: Kämpfe um Recht. Erschienen in: Radikale Soziale Arbeit?. 33/ 2014, Asylpolitik: Wider die Bewegungsfreiheit. 38/ 2016, Linke EU- und Europakritik. 39/ 2016. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1219. Abgerufen am: 19. 04. 2024 20:10.

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Sonja Buckel 2013:
"Welcome to Europe" Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts. Juridische Auseinandersetzungen um das „Staatsprojekt Europa“.
transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-2486-1.
372 Seiten. 33,80 Euro.