Zum Inhalt springen
Logo

Marionetten

Buchautor_innen
John Le Carré
Buchtitel
Marionetten
Buchuntertitel
Neue Sichtweisen auf den Widerstand gegen die NS-Diktatur 1938-1945
John Le Carré über das mögliche und wirkliche Zusammenspiel der Behörden in der BRD.

In seinem neuesten Roman hat Le Carré sich das Zusammenspiel der Behörden in der BRD vorgenommen, und zwar nicht, wie es der Legalität nach jetzt schon funktioniert, sondern wie es nach Schäubles Absichten als deutsches FBI, als vereinheitlichendes Zentralsystem aller Dienste, demnächst funktionieren soll. Le Carré geht realitätsnah und unbefangen von jetzt schon arbeitenden völlig gesetzeswidrig arbeitenden Keimformen aus, die durch das BKA-Gesetz und mit ihm zusammenhängende, demnächst in voller Legalität und Legitimität ihre Arbeit aufnehmen werden.

”Ihre [die neue Behörde, Anm. fg] bloße Existenz erfüllte die Herzen der eingesessenen deutschen Geheimdienstler sicher mit Furcht. Sicher, offiziell war es nichts weiter als eine Arbeitsgruppe, gebildet aus Spitzenleuten der fraglichen Dienste und betraut mit der Aufgabe, nach einer Serie beinahe-geglückter Terroranschläge auf deutschem Boden die Zusammenarbeit untereinander zu verbessern. Nach einer Reifungsphase von sechs Monaten - so die amtliche Version - sollten ihre Empfehlungen den beiden Machtzentren des deutschen Geheimdienstwesens, Innenministerium und Kanzleramt, zur Beurteilung vorgelegt werden, und damit hatte sich die Sache.

Oder auch nicht. In Wahrheit nämlich war der Auftrag der Zentrale von welterschütternder Bedeutung, bestand er doch in nichts Geringerem als der Schaffung eines völlig neuen Führungssystems, das alle größeren und kleineren Nachrichtendienste unter sich vereinen und, etwas nie Dagewesenes in der bundesdeutschen Bürokratie, einem einzigen Mann unterstellt sein sollte, einem Chefkoordinator ganz neuen Stils, der mit ungeahnten Befugnissen ausgestattet sein würde.” (S. 57)

Es ist Le Carré dieses mal weniger um den spannenden Fall gegangen, als um das Zusammenspiel der Dienste an einem ergiebigen Beispiel. Ein Tschetschene, halb verhungert, illegal nach Hamburg gebracht, trabt durch die Stadt und sucht um Hilfe nach - bei muslimischen Türken, Mutter und Sohn. Der Sohn wendet sich an die Helfer von flucht.punkt (eine entsprechende Hilfsorganisation existiert in HH wirklich) und gewinnt die junge Rechtsanwältin Annabel aus diesem Verein zur tätigen Unterstützung des Tschetschenen Issa. Die Behörden haben Issa bemerkt, verhören mehr oder weniger offen Annabel in den Räumen des Vereins. Dort verweigert diese entscheidende Aussagen. Die Folge: Eine in aller Seelenruhe vorgenommene Freiheitsberaubung ohne jede legale Rechtfertigung durch Bachmann, einen Mann der neuen Integrationsbehörde. Das läuft so ab:

“'Annabel! Du meine Güte! Wie geht es Dir? Wie geht’s Heidi? Stimmt es, dass sie schon wieder schwanger ist?'
Eine grobschlächtige Frau, etwa in ihrem Alter. Grüne Kordsamtjacke. Jeans. Die Haare kurz, das Gesicht ungeschminkt, breites Lächeln. Annabel, deren Gedanken nur mühsam in die Realität zurückfanden, durchforstete ihr Gedächtnis nach einem Anhaltspunkt. Freiburg? Schule? Skiurlaub in Österreich? Der Fitnessclub?
'Ach, mir geht’s gut. Heidi auch. Gehst du einkaufen?'
Die Ampel schaltete auf Grün. Zusammen überquerten sie die Straße. Annabels Fahrrad zwischen sich (...) Auf Annabels linker Seite, der ohne Fahrrad, war plötzlich noch eine Frau. Drall, mit rosigen Backen und einem bunten Tuch um den Kopf. Sie hatten den Bordstein erreicht, und um sie herum war niemand mehr.
Eine kräftige Hand schloss sich um Annabels Handgelenk am Lenker. Eine zweite Hand packte ihren linken Arm und bog ihn ihr mit einer Geste, die fast als freundschaftlich durchgehen mochte, auf den Rücken. Mit dem Schmerz kehrte messerscharf die Erinnerung an die beiden Frauen zurück, die sie heute morgen an der Tankstelle bemerkt hatte.
'Sie steigen bitte unauffällig ins Auto' erklärte die zweite Frau, ihre Lippen dicht an Annabels Ohr. 'Sie setzen sich nach hinten, in die Mitte, ohne Mätzchen. Alles ganz ruhig und normal. Um ihr Rad kümmert sich meine Kollegin.' Die Seitentür des zerbeulten gelben VW-Busses stand offen. Vorne saßen der Fahrer und noch ein anderer Mann und sahen stur geradeaus. Den arm fest um Annabels Schulter gelegt, bugsierte die Frau sie auf die Rückbank. Hinter sich hörte Annabel ihr Fahrrad klappern, gefolgt von einem Plumps. In dem Durcheinander war ihr gar nicht bewusst gewesen, dass sie sich auch ihres Rücksacks bemächtigt hatten. Die beiden Frauen nahmen in aller Ruhe rechts und links von ihr Platz, griffen jede nach einer ihrer Hände,schlossen eine Handschelle darum und drückten sie tief in die Polster, so dass sie halb darauf saßen.” (S. 209/210)

In den geheimen Räumen der neuen Behörde plustert Bachmann sich auf und bekennt sich schamlos zu seiner Technik, die Anwältin in abfahren und abführen zu lassen:

“'Möchten sie ihren Einspruch vielleicht gleich einlegen,damit wir das abhaken können?' fragte Bachmann, Zigerette im Mund. 'Auf ihrem Sonderstatus als Anwältin herumreiten, diesem ganzen Mist? Darauf, dass ein Wort von ihnen reicht, und ich fliege in hohem Bogen raus? (...) Und wo wir gerade dabei sind, wo haben sie ihr nächstes Date mit dem gesuchten Issa Karpow, den sie in ihrer Wohnung versteckt halten?' (…)"

Die Assistentin fährt die zweite Drohung auf:

”'Ich fürchte, sie haben die Wahl zwischen uns und gar niemandem, Frau Richter. Es gibt einen Haufen von Leuten, nicht sehr weit von hier, die nichts lieber täten, als Issa mit einem gewaltigen Polizeiaufgebot festzunehmen und die Lorbeeren dafür einzuheimsen. Und die Polizei könnte es gar nicht erwarten, all die Personen einzubuchten, die dann als Issas Komplizen dastünden. Leyla, Melik, Herrn Brue, nehme ich doch stark an, sogar ihren Bruder Hugo. (...) Missbrauch ihres Anwaltsstatus. Wissentliche Deckung eines gesuchten Terroristen. Irreführung der Behörden etc. Ihre Karriere am Ende mit - wie alt wären sie - sagen wir vierzig, wenn sie ihre Haftstrafe abgesessen haben.'
'Es ist mir egal, was sie mit mir machen'
'Aber um sie geht es ja gar nicht, oder, Frau Richter? Es geht um Issa'” (S. 215)

Das bekannte Schema der Dienste - wie etwa in der Behandlung der NPD - zeichnet sich auch hier ab. Die eine Seite tendiert dazu, durch Infiltration die Gruppierungen zu beherrschen und insgeheim zu solchen Verhaltensweisen zu bringen, die weniger Blutvergießen kosten. Die anderen wollen einfach zerschlagen. Die Sympathien Le Carrés gehören eindeutig der ersten Strategie. Nur ist er Kenner der Dienste genug, um die Details in ihrer Unverfrorenheit offen auf den Tisch zu packen: die Gruppe Infiltration ist genau so skrupellos wie die der Zerschlager. Präziser noch: die Gruppe eins könnte ohne die Gruppe zwei gar nicht existieren. Sie braucht den noch offeneren Terror, um sich die eigenen Opfer zur Mitarbeit gefügig zu machen. Le Carré schildert genüsslich umfangreichste Veranstaltungen, um Informationen über ein Wesen zu sammeln, das gefährlich nur dadurch wird, dass sämtliche Dienste ihre ganzen Klischees auf ihm abladen. Da wird kameraüberwacht, per Richtmikrophon abgehört, aus tausend mehr oder weniger privaten Dateien geschöpft, um sich beim Verhör in die Lage zu versetzen, jeden - nach dem Strafgesetzbuch erst einmal nur Verdächtigen - so durch Allwissenheit einzuschüchtern, dass er zu nahezu jeder Aussage bereit ist.

Der Plan der Infiltrierer: einen berühmten Imam, der aber als heimlicher Hassprediger trotz allem verdächtig ist, mit Issa zusammenzubringen. Dieser, Sohn eines russischen Obersten und der von ihm zunächst vergewaltigten, später geliebten tschetschenischen Muslimin, hat ein großes Erbe bei einem Hamburger Bankier abzuheben. Da er das Sündengeld nicht für die eigene Tasche übernehmen will, soll er benutzt werden, das Geld für wohltätige Zwecke anzunehmen, auf Beratung hin des Imam. Dieser wieder, dann überführt, Verbrechensgeld angenommen und an zweifelhafte Empfänger weitergereicht zu haben, soll von den Infiltrierern vor die Wahl gestellt werden, entweder vor der gesamten islamischen Welt am Pranger zu stehen - oder sich der Oberleitung des Dienstes A zu ergeben und fortan sanftere Pfade zu wandeln - und Gläubige entsprechend zu beeinflussen. Man sieht, ein riesiges Aufgebot, um etwas zu erreichen, das wahrscheinlich entweder einfacher - oder gar nicht - zu haben gewesen wäre. Die wirklich kriegerisch gesonnenen Islamisten wären wohl nicht weiter entsetzt, wenn nicht nur bei den westlichen Diensten, sondern auch bei ihnen, der Zwecke die Mittel heiligen muss. Insofern hängt Le Carré in diesem Punkt mit seinen Bloßstellungs- und Entlarvungsplänen ziemlich in der Luft.

Wichtig an dem Roman ist nicht die Krimi-Intrige, sondern die Beschreibung von Plänen, die denen eines Schäuble nahe kommen, mit all ihren Konsequenzen. Die lauten: Wenn Du Dir nur genug Informationen verschaffst - vom bloßen Datensammeln bis zum Einritt in fremde Computer auf dem Trojaner, kannst Du jeden dazu herumkriegen, nach Deiner Pfeife zu tanzen. So wird etwa der das Erbteil verwaltende Bankier unter Druck gesetzt, weil schon sein Vater sich von der englischen Regierung zum Geldwaschen bestechen ließ - durch einen Orden - zum höheren Zweck, aus der sowjetischen Erbmasse möglichst viel für die englischen Dienste an Land zu ziehen.

Le Carré zeichnet genau die Welt im Voraus in ihrem erbarmungslosen Funktionieren, die Schäuble erst noch plant. Wenn auch wenig Zweifel daran bestehen - im Roman wie außerhalb - dass im Dämmer zwischen legal und illegal schon so manches betrieben wird, was bis jetzt das Grundgesetz verboten hat - und das auf seine Legalisierung wartet, nicht erst auf Entstehung und Gründung. Zugleich aber Carrés Blick auf das Schicksal aller Dienste: Sie können eben wegen der Geheimhaltung nie völlig von einer Spitze aus kontrolliert werden. Es bilden sich immer Teilsysteme heraus, die sich erbittert bekämpfen. Mit dem Siegeszug von Schäubles Plänen prophezeit Carré zugleich ihren Niedergang. Mit allen bösen Absichten wird die vollkommene Geschlossenheit des Systems immer wieder durch innerorganisatorische Konkurrenz gesprengt.

Le Carré hat nach eigener Aussage mit Kurmaz Kontakt aufgenommen, der ja bekanntlich von Hamburg aus aufgebrochen ist nach Pakistan. Und einige Züge seines etwas wirren Helden Issa erinnern wirklich an denjenigen, den die USA nach gewisser Zeit aus Guantanamo entließen, den aber Steinmeier und die seinigen um alles in der Welt nicht mehr ins Land lassen wollten. Unmittelbar aus der Praxis entnommen ist das Verhalten des Bundesamts gegen die türkische Mutter und ihren Boxersohn, die nichtsahnend zur Hochzeit einer Tochter in die Türkei gefahren sind, nun aber nicht mehr zurück dürfen, weil sie ”einem islamistischen Kriminellen Unterschlupf gewährten” (S. 337) - wobei in diesem Augenblick das AMT selbst nichts weiß von der Kriminalität des zu Schnappenden. Zugleich soll den türkischen Behörden ein Wink gegeben werden - allerdings unter der Voraussetzung, dass die Überführung des Imam dadurch nicht gestört wird. Züge von Murat Kurnaz trägt die Hauptfigur Issa selbst. Durch den Kunstgriff, gar nichts aus der Perspektive des Gejagten zu berichten, ihn nur in den abwechselnden Konstrukten seiner Verfolger überhaupt dasein zu lassen, bleibt das Innere Issas jeder Vermutung zugänglich. Aber zugleich allen verborgen. Wie der lebende Kurnaz mit seinem langen Bart und den wallenden Locken befremdlich wirkte, so auch Issa. Nur - befremdlich als Fakt, der auf sich beruhen kann - gibt es für die Dienste nicht. Befremdlich ist solange verdächtig - bis die Maschine zuschlägt - und der vorausgewussten Tat das Geständnis nachfolgt - und damit im Sinn der Dienste der Beweis.

Denn die Pläne beider Fraktionen der zusammenwachsenden deutschen Dienste gehen nicht auf. Ganz am Ende - auf den letzten drei Seiten - schlagen die Leute des CIA zu. Sie entführen Issa und den Imam im allerletzten Augenblick. Rendition. Brutale Erklärung eines der Verantwortlichen:

“'Auge um Auge, Günther. Gerechtigkeit im Sinne von Vergeltung, klar. Abdullah (einer der vielen Issa - auferlegten Phantasie - Decknamen) hat Amerikaner auf dem Gewissen. (…) Issa Karpow sponsert den Terror, basta. Issa Karpow lässt den ganz bösen Jungs Knete rüberwachsen. Gerade eben zum Beispiel. Fick dich ins Knie, Günther. Okay.'” (…) “'Issa Karpow hat Dreck am Stecken, aber hundertprozentig. Und das wird er schon noch gestehen, spätestens in ein paar Wochen, falls er so lange durchhält. Jetzt verzieh dich, bevor ich Dir Beine mache.'” (S. 366)

So ein Geheimdienstler zum andern, mit dem er wochenlang in den Kellern von Beiruth einträchtig zusammengesessen war und das Ende des Bombenkrieges abgewartet hatte.

Die bittere Pointe: die sorgfältig eingefädelte Transaktion, gemäß der Issa unter Beratung des Imam unter Beihilfe des Bankiers Überweisungen tätigte an Konten, die er nicht kennen konnte, dient jetzt der allerbrutalsten Fraktion (CIA) als Anhaltspunkt, um das Geständnis von etwas, das es nie gab, durch Folter zu erzwingen.

So unbestreitbar solche Vorgänge in der Welt außerhalb des Romans sind: im Roman Carrés selbst wirkt der Schluss doch als eine Art Vereinfachung. Wenn alles nur mit schamloser offener Gewalt ohne jede weitere Rechtfertigung läuft, sind freilich die komplizierten Manöver beider Fraktionen des vereinigten Dienstes überflüssig und fast schon lächerlich. Mit diesem Schluss bricht Le Carré seinen sorgfältig angelegten Beweisgang ab: dass die Vereinheitlichung der Dienste zu ihrem Auseinanderfallen führen wird. Sind solche Manöver wie die Rendition der CIA an der Tagesordnung, dann wären alle subtilen Schachzüge hinfällig. Nur: wie jetzt die Auflösung von Guantanamo zeigt, hält sich offene Brutalität - der permanente Kriegszustand - mitten in einer sich immer noch bürgerlich wähnenden Gesellschaft nicht ewig. Er wirkt als Fremdkörper, der auf die Dauer nicht in der selben Art hingenommen werden kann, wie die Schweinereien der gewöhnlichen Dienste, die ganz am Ende immer wieder auf juristisch gangbare Wege geleitet werden. Schäuble strebt tatsächlich kein Guantanamo in der Republik an. Er will totale Überwachung, illegalen und legalen Druck auf jedermann, im Rahmen eines Ganzen, das immer noch als kohärent hingestellt werden kann zu den gängigen Rechtsvorstellungen, so oft es auch im Einzelnen dagegen verstößt. Er will Orwells Big Brother, aber als einen, der immer im Hintergrund bleibt, nie handelnd vortritt. Auf dem Vordergrund sollen Gerichte ruhig weiterarbeiten, und streng nach den im Hintergrund erzeugten Beweisen und von irgendwo hergeholten Geständnissen urteilen. Dieses System wird sich auf die Dauer als gefährlicher erweisen, und vermutlich nie einen Obama auf den Plan rufen, der es unter Äußerungen des Bedauerns abschaffen muss.

**

Die Rezension erschein zuerst im Dezember 2008 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, sfr, 12/2010)

John Le Carré 2008:
Marionetten. Neue Sichtweisen auf den Widerstand gegen die NS-Diktatur 1938-1945.
Ullstein Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-548-28128-5.
368 Seiten. 9,95 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: Marionetten. Erschienen in: . URL: https://kritisch-lesen.de/c/837. Abgerufen am: 20. 04. 2024 01:18.

Zur Rezension
Zum Buch
John Le Carré 2008:
Marionetten. Neue Sichtweisen auf den Widerstand gegen die NS-Diktatur 1938-1945.
Ullstein Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-548-28128-5.
368 Seiten. 9,95 Euro.