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Das Urbild des Tony Blair

Buchautor_innen
Hilary Mantel
Buchtitel
Wölfe
Hilary Mantel schildert voll Sympathie die Gestalt des berüchtigten Gewaltmenschen Thomas Cromwell zur Zeit Heinrichs VIII. Er tritt als Reformer mit Augenmaß dem "verbissenen Schwärmer" Thomas Morus entgegen.

Keine Geschichte füllt öfter den Raum zwischen den Sendungen bei n-tv als die der Tudors. Heinrich VIII. als Liebender und Gewalttäter, der seine erste Ehefrau verbannte, um eine zweite zunächst zu heiraten, und sie dann zum Tode verurteilen zu lassen. Das alles ist als Gräuelgemälde aufzufassen über die furchtbaren Verheerungen, welche Leidenschaft in den Mächtigen dieser Welt anrichtet. Dass es bei all dem nicht nur um Erotik ging, hat man vermutet. Enteignung der Klöster und Durchsetzung der königlichen Gewalt gegen die Kirche hatten durchaus ihre Gründe - ganz ohne Sinnenglut im Hirn. Was in Deutschland zur gleichen Zeit Herzöge so gut wie freie Reichsstädte betrieben, bekam in England damals andere Motive aufgesetzt. Ziel war aber in allen Fällen der Wunsch der reicher gewordenen Bürger im Verein mit ihren Fürsten, sich sämtliche Einkommensarten im eigenen Terrain zur Verfügung zu bringen.

In der mehr katholisch ausgerichteten Literatur der historischen Romane kamen beim späteren Bürgertum allerdings die Gegner dieser Politik weit besser weg als deren damalige Betreiber. So vor allem Thomas Morus, der als Kanzler des englischen Reiches zurücktrat und schließlich die Hinrichtung auf sich nahm, nur um der bloßen Staatsgewalt nicht wehrlos zu Willen sein zu müssen. Ich selbst - geboren im Jahr 1935 - bekam meinen zweiten Rufnamen nach Thomas Morus, der im gleichen Jahr von Pius XI. heilig gesprochen und zum Schutzpatron der Juristen erhoben wurde. Bei uns daheim sammelten sich die Biographien und die Kopien der verschiedenen Porträts, die Hans Holbein angefertigt hatte. Als finsterer Knecht königlicher Absichten wurde er in all diesen Büchern immer wieder Thomas Cromwell - dem später Heiliggesprochenen - gegenübergestellt, schon von Zeitgenossen "Hammer der Mönche" genannt. Welche Überraschung, eben diesen Thomas Cromwell, Sohn eines trunksüchtigen prügelnden Schmieds, im Roman von Hilary Mantel wiederzufinden als den umsichtigen Mann, der - mit gerade noch ausreichender, nie übertriebener Brutalität - ein modernes England herstellt. Nach Mantel diente Cromwell lang und treu dem Kardinal Wolsey und lernte bei diesem alle Tricks und Feinheiten der damaligen Theologie und vor allem der Juristerei.

Heinrich VIII. und selbst die Autorin Hilary Mantel rechnen es Cormwell hoch an, dass er seinem geistlichen Herrn die Treue hielt, selbst nachdem dieser vom König seiner Ämter beraubt worden war und von allen verlassen wurde. Gerade wegen solcher Treue darf Cromwell dann in die Dienste des königlichen Früh-Absolutisten treten. Aus marxistisch inspirierten Schriften erfahren wir immer wieder, wie das kaufmännische Bürgertum sich auf die absoluter werdende Gewalt der Könige stützte, um allmählich die eigene Macht - die des Geldes - gegen die der Geburt und des Landbesitzes der Adligen durchzusetzen. Wie das konkret vor sich gegangen sein kann, war bisher schwer vorzustellen. Mantel hilft dazu. Sie zeigt die Zusammenkünfte des - selbst über Wollhandel reich gewordenen - Cromwell mit den Stadtbürgern von London, die ihrerseits zunächst zu Morus als dem allerseits anerkannten gerechten Richter halten. Erst in den letzten Kapiteln des Romans wird der Gegensatz zwischen Cromwell und Morus scharf herausgearbeitet. Keineswegs ist Cromwell auf die Hinrichtung Morus aus. Nur versteht er in keinem Augenblick, wie einer Blut, Gut und Ehre opfern mag um einer bloßen Eides willen. Morus nämlich weigert sich vor allem, die Vormacht des Königs über die Kirche und damit die Losreißung von der tausendjährigen Geschichte der Christenheit anzuerkennen. Im letzten Gespräch in der Zelle im Tower entspannt sich folgender Dialog zwischen Cromwell und Morus:

"Ich bin froh, dass ich nicht so bin wie sie!"
"Zweifellos. Denn sonst säßen sie hier."
"Ich meine, dass meine Gedanken nicht auf die nächste Welt fixiert sind. Ich schließe daraus, dass sie keine Möglichkeit sehen, diese zu verbessern."
"Und sie tun es?" (S.738)

Die schärfste Verkehrung der bisherigen Vorstellungen. Morus, der Autor von Utopia , galt nach der allgemeinen Meinung gerade als Denker des Veränderlichen, einer Welt ohne Privateigentum, in der im Kontrast zum vorgestellten klassenlosen Zustand des damaligen Englands als besonders unheimlicher Ort der Ausbeutung und der Erziehung der Enterbten zum Raub erschien. Jahrhundertelang wurde aus Utopia Morus Satz von den menschenfressenden Schafen wiederholt, nämlich jener, die - im Besitz der Gutsherren - auf den zwangsangeeigneten Gemeindefluren die Kleinbauern vertrieben. Die adligen und bürgerlichen Besitzer der Schafe und Profiteure vom Wollhandel waren demnach nicht besser als Wegelagerer.
Mantel macht den Utopisten im Buch mehr oder weniger verächtlich. Auf Folterungen, die Morus in seiner Zeit der Kanzlerschaft angeordnet hatte, wird immer wieder hingewiesen. Die viel häufigeren, die Cromwell geduldet oder angeordnet hatte, werden mehr beiläufig abgehandelt.
Für Mantel ist Cromwell der Mann, der zupackend, die hochgeschobenen Ärmel voller Blut, die gegenwärtige Welt wirklich verändert.

Es kann nicht anders sein. Sie hat bei diesem Kraftprotz bürgerlicher Frühe an den gleichgesinnten Schwächling der Spätzeit gedacht: an Blair und seinesgleichen. An Gewissenlosigkeit steht Blair dem frühen Cromwell nicht nach. Er übertrifft ihn jedoch an Blindheit - und vor allem an Erfolglosigkeit. Er kommt Cromwell in der schamlosen Selbstzufriedenheit gleich. Ein Mann, der sich voller Selbstlob - ohne Not - an den Verbrechen des Irak-Kriegs beteiligte, um sich nach der Aufdeckung sämtlicher Schändlichkeiten in den Memoiren seiner Untat noch zu rühmen, stellt den ohnmächtig gewordenen Schatten eines übermächtigen Urbilds dar. Cromwell hatte diesem bisher letzten seiner Art eines voraus: die Möglichkeit, auf den Aufstiegswillen einer geschlossenen bürgerlichen Klasse zurückzugreifen. Blair dagegen ist zum Hampelmann geworden, der außer ein paar Lohnschreibern und Söldnern gar niemanden mehr hinter sich hat.

Es ist Mantel gelungen, im Rückblick auf das Urbild die Windigkeit des letzten Nachfahren (Blair) noch einmal ins schärfste Licht zu stellen. Ob sie das nun beabsichtigte oder nicht. Durchaus möglich, dass Mantel, wenn sie sich zu theoretischen Aussagen über gegenwärtige englische Politik hinreißen ließe, sich nicht weniger antidemokratisch und antikommunistisch äußern würde als Herta Müller bei uns. Darauf darf es allein bei der literarischen Bewertung beider aber gar nicht ankommen. Wichtig ist bei beiden einzig und allein die Kraft der Darstellung der Durchhaltefähigkeit eines Charakters, wie sehr diesen die moralische Beurteilung nachträglich auch verurteilen mag.

PS: Angeblich arbeitet die Autorin an einem zweiten Teil, in dem Glanz und Elend des Vorkämpfers der bürgerlichen Klasse zur Zeit ihres Aufstiegs vorkommen müssten. Einschließlich des Endes. Bekanntlich musste der reichgewordene arme Mann am Ende sein Haupt genau so auf den Richtblock legen wie einst Thomas Morus. Einem Diktator wie Heinrich VIII. konnte keiner auf die Dauer genug tun.

Hilary Mantel 2010:
Wölfe.
DuMont Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-8321-9593-9.
768 Seiten. 22,95 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: Das Urbild des Tony Blair. Erschienen in: Rechte „Mitte“ – „extreme“ Rechte. 3/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/c/897. Abgerufen am: 28. 03. 2024 19:47.

Zum Buch
Hilary Mantel 2010:
Wölfe.
DuMont Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-8321-9593-9.
768 Seiten. 22,95 Euro.