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Auf der Suche nach den Tatsachen! Gibt es die aber wie den Kiesel am Weg?

Buchautor_innen
Per Olov Enquist
Buchtitel
Die Ausgelieferten
Enquist liefert hier eines der ersten Beispiele eines Faktenromans, in welchem die Suche des Berichterstatters nach diesen Fakten schwerer wiegt als das Ergebnis selbst. Wann endlich ist er mit seinem Suchen einig?

Enquist schildert in diesem „Roman einer Untersuchung“ die Vorgänge um die Auslieferung von ca. 150 Balten nach dem Weltkrieg an die Sowjetunion durch das bis dahin hochgerühmte neutrale Schweden, das sich vor und nach diesem Ereignis erfolgreich als Friedenswahrer darstellen konnte. Die Auslieferung der Balten als Kriegsgefangene 1945/1946 an die Sowjetunion muss vor allem in Schweden selbst Beunruhigung und Beschämung ausgelöst haben. Ausgangspunkt seiner Suche ist Enquist die Teilnahme an den Protestmärschen von Schwarzen in den Südstaaten der USA Ende der sechziger Jahre. Er, der Weiße, immer dabei. In Nähe und Distanz, wie das journalistisch kaum anders zu denken ist. Enquist aber erliegt der lutheranischen Gewissensfrage: Liebe ich mein Engagement dabei – oder die „gerechte Sache“? Die Frage – so gestellt – verliert im gleichen Augenblick jede Möglichkeit einer befriedigenden Antwort. Wie die französischen Moralisten oder ein Nietzsche nachwiesen: Immer, wie sehr du dich erheben magst, ist dein Ich dabei. Antreibend, störend, selbstgefällig. Es lässt sich nicht aus der Rechnung heraus kürzen. Also bleibst du selbstsüchtig, wie sehr du dich hingeben möchtest. Die Frage selber bedingt die Schuld. Ein anderer würde vielleicht nur nach dem Ergebnis fragen. Das erlaubt sich der Reflektierte aber nicht.

Enquist sucht einen anderen Ausweg. Als ihm in den USA die Sache mit den an die UDSSR ausgewiesenen Balten vorgehalten wird, nimmt er sich vor, dieser Sache – der im eigenen Gelände vorgefallenen – auf den Grund zu gehen. Und zwar so, dass in jedem Augenblick die Struktur sichtbar wird – und zugleich die Bewegungen der einzelnen Menschen, die diese Struktur erst hervorbringen. Könnte er die Willensregungen der Einzelnen immer mit bedenken, so stünde er der Sache nahe – und zugleich den Menschen. Wäre dieses Mal mit Recht allen nahe und fern zugleich. Liefe nicht einfach einer Struktur nach wie einem Ding.

Objektive Lage

In den letzten Tagen vor der Kapitulation gelingt es Deutschen und Balten in deutscher Uniform gemeinsam das schwedische Ufer zu erreichen. Sie werden interniert. Die SU erkundigt sich in einer bloßen Anfrage nach dem möglichen künftigen Verbleib sämtlicher Kriegsgefangener, egal welcher Nationalität. Denn der Kapitulationsvertrag sah vor, dass alle Gefangenen an die Frontstellen – und demnach Länder – zurückgeschickt werden sollten, wo sie gefangen genommen wurden. Schweden, als neutraler Staat, interpretierte das über den Wortlaut hinaus als Aufforderung, Deutsche wie Balten der UDSSR auszuliefern (Auch die drei baltischen Staaten sahen sich 1946 mehr oder weniger freudig als Teil der SU). In Schweden – wie in allen von den USA mehr oder weniger abhängigen Ländern – vollzog sich noch im Jahr 1945 die Schwenkung, die das einleitete, was später „Kalter Krieg“ genannt wurde. Die Deutschen waren nach Aufdeckung der Lager zwar (noch) verachtet, wirkliche Angst und auch schon Feindschaft weckte aber der Block der Sowjet-Union.

Das wäre die kühle Feststellung eines Analytikers der politischen Großkonstellation. Unter Umständen verstärkt durch analytische Sätze wie: Das Kapital fühlte sich weltweit bedroht und schloss sich entsprechend zu Verteidigung und Gegenangriff zusammen. Eine solche Feststellung findet sich ausdrücklich bei Enquist nirgends, obwohl sie immer mitgedacht wird. Seine Forschung richtet sich gerade auf die Einzelbestrebungen, die zusammenlaufen zu etwas, das dem Kalten Krieg antwortet, aber nicht in ihm aufgeht. Da werden die evangelischen Pfarrer verhört, die die Bewegung zugunsten der Balten vor allem anheizten (Nicht zugunsten der Deutschen: denen geschah mit der Auslieferung wohl nach dem Recht). Dann schwedische Offiziere – viele vage an die baltischen Freiheitsbewegungen gegen Russland von 1939 erinnert. Hatten die Balten, die dann mit den Deutschen gingen, nicht alles Recht, sich gegen die Krallen des russischen Bären zu wehren? Dann vor allem SP-Politiker, die sich wehrten gegen die Unterstellungen anderer europäischer Länder, die Auslieferung an Russen wäre prinzipiell etwas anderes als diejenige an andere Siegermächte. Zugleich nicht ohne schlechtes Gewissen wegen der unbestritten deutschfreundlichen Aktionen ihrer Regierung in den Jahren bis 1943/1944. Jetzt also Ausgleich! Schließlich die baltischen Gefangenen selbst. Ihre Offiziere. Verschieden schuldbewusst wegen Teilnahme an deutschen Vernichtungsmaßnahmen im Hinterland der Front. (Riga, Herkunftsort vieler, war einer der Orte, an welchen unter Teilnahme von Letten die Judenverfolgung am frühesten und am furchtbarsten vollzogen wurde. Die deutschen Einsatzgruppen scheinen tatsächlich nur Hilfeleistungen erbracht zu haben). Unter ihnen ein charismatischer Offizier, der die ganze Lagergemeinschaft der Balten zu einem langen Hungerstreik brachte, der so rigoros durchgezogen wurde, dass jeder Streikbrecher nicht nur aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurde, sondern jede Kameradschaftsleistung entzogen bekam.

Das Scheitern der Annäherung an die Person

Die Schweden liefern diesen zwar mit den anderen aus, behandeln ihn aber fast unterwürfig – in größter Ehrerbietung vor seiner Entschlossenheit. Gerade dieser Offizier meldet sich dann in einer Sendung aus dem russischen Lager. Noch immer entschieden. Fast hoheitsvoll.

„Doktor Elmars Eichfuss-Atvars zeigt die Verlogenheit in allen Behauptungen jener Schweden, die uns Balten zum passiven Widerstand, zum Hungerstreik verleiteten, was für uns alle nur Leiden zur Folge hatte. (…) Selbstmordversuche und Selbstverstümmelungen bei den Deutschen. (...) Die schwedische Presse hat unter Berufung auf uns unbekannte Quellen von unserem furchtbaren Schicksal gesprochen (...) und erklärt, dass der Tod mit hundertprozentiger Gewissheit auf uns warte, dass man uns aber gleichwohl dem sicheren Tod ausliefern wolle. Darauf beschlossen wir, am 22. November 1945 um sieben Uhr einen Hungerstreik zu beginnen. Die Schweden hatten nicht das geringste dagegen einzuwenden.“ (S. 218)

Der Vorkämpfer des Widerstandes von gerade eben im Februar 1946 als Erkennender und Belehrter. Damit hören die Wallungen und Wandlungen aber nicht auf. Ganz am Ende seines Berichts gelingt es Enquist, nach Interviews mit vielen anderen keineswegs hingerichteten Ausgelieferten aus Schweden den kranken Eichfuss wiederzusehen. Er leidet unter schwersten Herzkrämpfen, sein erloschenes Gesicht überzieht unmerklich die blauweiße Farbe des Schimmels. Und hier behauptet der Vorkämpfer, immer noch im Ton des Wissenden, er sei zu den üblichen fünfundzwanzig Jahren verurteilt worden, ohne dass ihm etwas hätte nachgewiesen werden können. Warum dann aber? Nur weil er keinen Vortrag im Rundfunk hätte halten wollen. Die Enkel, die ihn begleiten, kommen gerade aus einem Komsomolz-Lager. Er ist inzwischen mit einer Russin verheiratet. Steht er auf einmal treu zur Sowjet-Union, nach der Drehung Chrustschows? Enquist, der seine Lüge kennt, verfällt im Entsetzen in den alten Brauch des Gebets: „Wenn wir nur durchkommen, dachte der Schwede in einem kurzen und flüchtigen Augenblick, wenn wir dies glücklich hinter uns bringen, wenn er überlebt und alles gutgeht, werde ich wieder an einen Gott glauben.“ (S. 453)

Geltungssucht, die den Sterbenden dazu bringt, all seine Lügen zugleich vorzubringen - Erschrockenheit, die den Berichterstatter daran hindert, sich zu bekennen zu dem, was er doch weiß. Damit ergibt sich zwar Anteilnahme, aber keine aufdeckende Erkenntnis. Keine Wahrheit, die über den Augenblick hinaus bleibt.

Brief an Mao

Mitten in den Aufschreibversuchen findet sich ein Brief Enquists an Mao. Nicht wegen einer bestimmten Schrift, sondern wegen des allgemeinen Aufrufs: die Wahrheit in den Tatsachen suchen. Nachträglich kommt die Aufforderung vielleicht einem an Newton und Helmholtz ausgerichteten Denken außerordentlich banal vor. Wie sollte man denn sonst zu Wahrheit kommen? Damals aber – in der Spätzeit Maos – muss die Aufforderung etwas Befreiendes enthalten haben. Nämlich: nicht scholastisch vorzugehen. Nicht aus den Schriften von Marx und Lenin zu allererst folgern, was eigentlich hätte passieren müssen nach ihrer Lehre und dann die begegnenden Ereignisse danach zu sortieren und gelten zu lassen, sondern gerade umgekehrt: ohne angemaßtes Vorauswissen zu schauen, was vorliegt, was ansteht, um dies dann nachträglich im Licht der Lehre der Vordenker zu überprüfen. Enquist macht sich im Brief an Mao keinerlei Sorgen um die Frage ‚was ist eine Tatsache?‘ sondern vielmehr um das Problem: Wie forsche ich ohne vorweg besorgt zu sein. Denn während er forscht und schreibt vollziehen sich in Vietnam Verbrechen, die einfach nicht weggedacht werden können. Also ist doch immer Vor-Wissen, besser Vor-Sorge in mir.

Den Einwand hätte der Große Vorsitzende wohl nicht gelten lassen. Denn auch das Fortschreiten der Zeit ist eine Tatsache, die zusammen mit den anderen Tatsachen bei der Wahrheitsforschung berücksichtigt werden muss. Dass Imperialismus nicht mehr von den Deutschen, sondern von den USA und der UDSSR betrieben würde, wäre dann ein neuer Umstand, der zum Beispiel bei der Frage nach den Ursachen der ersten Erscheinungen des Kalten Krieges ein zusätzliches Licht darauf werfen müsste.

Ermüdung und Erstaunen

Wie Enquist in einem Nachwort fünfzig Jahre nach Niederschrift feststellt, halten seine Ergebnisse historisch stand. Auch nach Eröffnung weiterer Akten. Seine Aufzeichnungen gelesen nach so langer Zeit ermüden zeitweise. Kaum einer der sozialistischen schwedischen Politiker, die da verhört werden, ist uns noch gegenwärtig – außerhalb Schwedens, versteht sich. Insofern versetzen uns die langen Interviews zwischendurch immer wieder in eine sachte Trance. Erstaunlich aber bleibt der Erfahrungsweg, der am Ende ans Unergreifbare stößt. Enquist hat immerhin eine Methode skizziert in diesem frühen Roman, wie wir als historisch Forschende und vor allem Lebende unser eigenes Mit-Leben mit einbeziehen können in die Erkenntnisbemühung. Ohne dabei auf eine endgültige Wahrheit hoffen zu dürfen, würden wir wenigstens unseren eigenen Weg im Rückblick als Vergewisserung verstehen. Als einen stummen, aber verlässlichen Zuspruch zu uns selbst, was immer dieses Selbst sein mag.

Per Olov Enquist 2011:
Die Ausgelieferten.
Carl Hanser Verlag, München.
ISBN: 978-3-446-23632-5.
480 Seiten. 24,90 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: Auf der Suche nach den Tatsachen! Gibt es die aber wie den Kiesel am Weg? Erschienen in: Entwicklungen feministischer Politiken. 7/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/c/919. Abgerufen am: 28. 03. 2024 19:04.

Zum Buch
Per Olov Enquist 2011:
Die Ausgelieferten.
Carl Hanser Verlag, München.
ISBN: 978-3-446-23632-5.
480 Seiten. 24,90 Euro.