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Globale libertäre Netzwerke

Buchautor_innen
Sebastian Kalicha / Gabriel Kuhn (Hg.)
Buchtitel
Von Jakarta bis Johannesburg
Buchuntertitel
Anarchismus weltweit
Ein Sammelband über den Anarchismus in seinen weltweiten Verschiedenheiten.

Gabriel Kuhn und Sebastian Kalicha geben mit dem Interview-Band „Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit“ einen umfassenden und ausgewogenen Überblick über anarchistische Praxis und Debatte in sechs Kontinenten. Es kommen AktivistInnen zu Wort, die allesamt in die jeweiligen regionalen Politiken involviert sind und einen Überblick über die gegenwärtigen Aktivitäten geben können. In den 50 Interviews wird gezeigt, „wie und in welchen Bereichen AnarchistInnen gegenwärtig weltweit aktiv sind bzw. waren, welche Kämpfe in welchen politischen Kontexten sie führen, was ihre Perspektiven für die Zukunft sind und worauf sie sich in der Vergangenheit beziehen“ (S. 8). Jedem Abschnitt des Buches sind relevante historische Daten vorangestellt und etliche Interviewte erläutern die Geschichte des Anarchismus in dem jeweiligen Land.

In den ersten Kapiteln kommen AktivistInnen aus verschiedenen Regionen Europas zu Wort, OrganisatorInnen von anarchistischen Buchmessen, Mitglieder von Verlagskollektiven, HistorikerInnen, SyndikalistInnen, Feministinnen und HausbesetzerInnen. Im zweiten Teil wird aus dem nahen und mittleren Osten berichtet. Es geht um die aktuelle Bewegung in der Türkei, in Jordanien und im Iran, um Red and Anarchist Skinheads im Libanon, um die Verbindungen von Sufismus und Anarchismus, um die frühe und aktuelle anarchistische Bewegung in Israel. Zudem wurde ein ägyptischer Anarchist und Blogger kurz vor der dortigen Revolte interviewt. Im Teil zu Asien berichten u.a. AktivistInnen einer Anarchopunkband aus Kathmandu, FreiraumaktivistInnen aus China und Südkorea, MitarbeiterInnen des Institut-A aus Indonesien, der Anarchist Initiative for Direct Democracy aus Manila und des CIRA Japana. Im Kapitel zu Afrika findet sich neben einem Vortrag von Sam Mbah, Mitglied der Awareness League aus Nigeria, ein Interview mit Anarchokommunisten aus Südafrika. Bezüglich Nordamerika wissen MitbegründerInnen des North American Anarchist Studies Network über die Breite der Bewegung zu berichten, ebenso wie anarchistische Autoren aus Kanada. Aus Lateinamerika wird über Mexiko, Kuba und Venezuela informiert. PlattformistInnen aus Argentinien kommen zudem ebenso zu Wort wie Hardcore/Punk-Projekte aus Kolumbien und AktivistInnen aus Bolivien, die die Zusammenarbeit mit Aymara-Kollektiven beleuchten. Abschließend finden sich zwei Interviews aus Ozeanien.

Das große Verdienst des Buches ist es, die Vielfalt anarchistischer Praxis und Theorie darzustellen, die unterschiedlichen Praktiken in ihre jeweiligen Kontexte einzubetten und die Wege nachzuzeichnen, die anarchistische Ideen – oft durch Flucht und Diaspora – in ihrer weltweiten Ausbreitung nahmen.

Zwei kontroverse Diskussionen ziehen sich durch den Band. Zum einen die Frage nach Organisationsformen, um die AnarchistInnen seit jeher streiten. Während beispielsweise Dimitri Sotros meint: „AnarchistInnen müssen [...] spezifische anarchistische Organisationen gründen, um die Werte des Anarchismus propagieren zu können. Dies gilt in Griechenland genauso wie überall“ (S. 116), betont ein anderer griechischer Aktivist: „Unsere Organisationsform erweist sich [...] als Stärke: unsere kleinen, beweglichen Bezugsgruppen erlauben es, sehr unmittelbaren Kontakt zu revoltierenden Menschen herzustellen“ (S. 122). Die andere Frage ist die nach der „richtigen“ Ausrichtung: Ist Anarchismus zwangsläufig Teil der ArbeiterInnenklassenbewegung und muss entsprechend in erster Linie klassenkämpferisch sein? Sind gegenkulturelle, ökologische oder feministische Fokussierungen nicht anarchistisch? Wer hat eigentlich die Definitionshoheit? Allan Antliff aus Kanada antwortet auf die Frage nach Spannungen zwischen SozialanarchistInnen und IndividualanarchistInnen: „Persönlich finde ich Entweder-oder-Sichtweisen immer problematisch. Hat die anarchistische Geschichte des Klassenkampfs in Europa keine kulturellen oder persönlichen Dimensionen?“ (S. 312). Solche oder ähnliche Plädoyers für Vielfalt, Austausch und gegenseitigen Respekt sind erfreulich oft zu lesen. So betonen zwei langjährige Redakteurinnen der schwedischen Zeitschrift Brand den Wert kleiner, spezifischer Kämpfe in verschiedenen Themenfeldern (S. 51). Und auch zwei Aktivisten aus Manila konstatieren: „Es gibt eine Reihe kleinlicher Debatten darüber, wer am anarchistischsten von allen ist usw. Meines Erachtens können diese Konflikte nur überwunden werden, wenn wir Vielfalt als Wert anerkennen“ (S. 252). Diesen Aussagen stehen einige wenige Versuche entgegen, Anarchismus allein an klassenkämpferische Konzepte zu binden, beispielsweise eines Gewerkschaftsaktivisten aus Oslo, der Anarchismus als „Tendenz innerhalb des revolutionären Sozialismus“ ansieht und sowohl Freiraumkämpfen als auch „gegenkulturellen Milieus“ (S. 48) die Bezeichnung des Anarchismus verwehrt. Und auch Lucien van der Walt aus Südafrika definiert: „Der Anarchismus ist Teil der ArbeiterInnenklassenbewegung. [...] weder ‚Individualismus’ noch ‚Lifestyle’ sind Formen des Anarchismus“ (S. 280).

Das 400-seitige Buch spiegelt hingegen wider, was Marianne Enckell vom Centre Internationale de Recherches sur l’Anarchisme in Lausanne betont. Es gibt hauptsächlich drei Tendenzen des gegenwärtigen Anarchismus: den klassischen Anarchismus der AnarchosyndikalistInnen und PlattformistInnen, den Anarchismus „der Straße, des Kampfes, des alltäglichen Lebens“, oft inspiriert vom Situationismus und einen „weichen Anarchismus, moralisch, oft vegan, manchmal tiefenökologisch, ein bisschen verunsichert von Hasskappen“ (S. 77).

Ungeachtet der Grabenkämpfe, die eben auch zur Geschichte des weltweiten Anarchismus gehören, liegen allen Richtungen Werte wie Selbstverwaltung, Autonomie, gegenseitige Hilfe, die Zurückweisung delegierter Macht und parlamentarischer Politik zu Grunde. Und diese gemeinsamen Prinzipien zeigen sich trotz unterschiedlichster Kontexte eindrucksvoll in diesem Band. Insofern ist es auch als Aufforderung zu verstehen, Grabenkämpfe durch Respekt vor spezifischen regionalen, politischen und individuellen Kontexten zu ersetzen und allzu engen Definitionen durch das Anerkennen des Wertes der Differenz entgegenzutreten.

Sebastian Kalicha / Gabriel Kuhn (Hg.) 2010:
Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-506-6.
400 Seiten. 19,80 Euro.
Zitathinweis: Regina Wamper: Globale libertäre Netzwerke. Erschienen in: Sommerpause. 8/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/c/925. Abgerufen am: 28. 03. 2024 21:17.

Zum Buch
Sebastian Kalicha / Gabriel Kuhn (Hg.) 2010:
Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-506-6.
400 Seiten. 19,80 Euro.