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Historikerstreit: Spülwasser im Cocktailglas! Bitte selber saufen

Buchautor_innen
Matthias Brodkorb (Hg.)
Buchtitel
Singuläres Auschwitz?
Buchuntertitel
Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre "Historikerstreit"
Um es gleich zu sagen: Überflüssiges Aufwärmen ältesten Waschwassers. Neues ist nicht zu erfahren: weder über Noltes angebliches Recht noch über Habermasens Unrecht.

Interessant dabei nur eins: die Frankfurter Allgemeine hatte seit Jahren dem einstigen Favoriten Nolte die kalte Schulter gezeigt. Nun erübrigt sie ziemlich viel Raum, um dem größten Schreihals unter den Beiträgern des Sammelbands – Egon Flaig – Platz für lärmende Breitseiten gegen Habermas einzuräumen.

Woher der Meinungswechsel?

Worauf sie bei der FAZ aus sind, muss dahingestellt bleiben. Worauf es Brodkorb ankam, dem verdienstvollen Bekämpfer aller Extremismen, vor allem des eingebildeten von links, war wohl Ansehensgewinn. Vorboxen in die erste wissenschaftliche Reihe. Deshalb sein unendlich umständlicher Andeutungsstil, dem alten Nolte peinlich abgeschaut. In der Hauptsache geht es ihm darum, dass Habermas eines drüber bekommt. Brodkorb greift nicht etwa den allerlahmsten Begriff Habermas' an: “Verfassungspatriotismus”. Hätte es den wirklich mal gegeben, also Anhänglichkeit an die rechtlich gefasste Freiheit, hätten alle 1989 aufjaulen müssen, als die wichtigsten Bestimmungen des Grundgesetzes über Bord geworfen wurden - durch Trick und Erpressung einer Volkskammer. So ohnmächtig Habermasens Zielvorstellungen vom Verfassungspatriotismus heute wirken, in einem Punkt hatte er auf jeden Fall recht. Dass nämlich Nolte und die anderen angegriffenen Historiker Hilfsbataillons darstellten im Kampf für Kohls "andere Republik". Für den Rückweg zum neuen Nationalismus, wie er sich inzwischen als quasi selbstverständlich durchgesetzt hat.

Was dem Aufwärmer kalt gewordener Streitigkeiten äußerst missfällt, ist die Weigerung des Philosophen Habermas, am Brodkorb mitzunaschen. Das wird als Charakterfehler erkannt und gemäß der Nikomachischen Ethik des Aristoteles verurteilt (Brodkorb ist wie Flaig Gräzist und zitiert anfallsweise auf griechisch). Dafür kann Brodkorb mit Nolte zusammen in wohligem Dunkel den Grundgedanken von Hitlers sekundärer Antwort auf Stalins (eigentlich Lenins) Erstschlag ausbreiten. Kein klarer Standpunkt - alles Meinung, Fragen. Wie Hannah Arendt beim ersten Besuch in Berlin nach dem Krieg feststellte: Alle Tatsachen waren verschwunden. Es gab nur noch Meinung. Auch Nolte - in die Defensive getrieben - kennt in einem seiner letzten Bücher ("Streitpunkte") nur noch Fragen. Ausgelegt auf dem Wühltisch für Nackte. Und andere Bedürftige. Im traulichen Gespräch mit Brodkorb wird alles aufgetragen. Der moniert manchmal zart, mit einem Zitatenzettel in der Hand. Und immer noch geht es um die "Singularität".

Singularität der deutschen Verbrechen

Singularität - Einmaligkeit. Warum soll es so wichtig sein, was anderswo - in anderen Ländern und Zeiten - an Schlimmem passiert ist? Und für wen? Einmaligkeit interessiert den einzelnen Menschen, weil er nur einmal lebt. Wurde ich von Mongolen im zwölften Jahrhundert gepfählt? Traf mich der Schwertschlag als Gegner der englischen Revolution? Verreckte ich im Schlamm eines Schützengrabens? - Was kann mich da kümmern, was anderen passiert? Mich trifft der Schlag auf jeden Fall unwiderruflich. Mein Bewusstsein erlischt. Für mich ist der Film aus.

Wenn alles, was geschieht, in einem einzigen, unwiederholbaren Leben geschieht, dann ist nichts verrechenbar. Auf dieser Ebene läuft die Theorie Noltes (Hitler schlimmer oder nicht so schlimm wie Stalin) und anderer von vornherein ins Leere. Eine andere Bedeutung könnte "einmalig" gewinnen, wenn wir den Ausdruck in die geschichtliche Entwicklung stellen. Den Athenern Flaigs - im selben Band - kann Männerherrschaft und Frauenunterdrückung kaum vorgeworfen werden: In der geschichtlichen Umwelt gab es nichts anderes. Wenn aber nach Jahrhunderten der Aufklärung und angeblich christlicher Gesinnung ganz offiziell die Ungleichheit der Menschen - vor aller Ohren - verkündet wird, dann wird eine Entwicklung nicht nur zurückgenommen, sondern ein Versprechen gebrochen. Und nicht nur in Meinungen, sondern in Handlungen, die - lange vor Auschwitz - weithin gebilligt wurden. Den einmaligen Bruch in diesem Sinn nicht mehr geschehen zu lassen, ist dann freilich etwas, das jede und jeden angehen sollte, denen die Einheit der Menschheit - die gemeinsame Menschwerdung - am Herzen liegt.

Noltes Fall

Das in gewissem Sinn Erschütternde am Weg Noltes ist der Bruch in seiner eigenen Lehre. 1963, als sein Buch Der Faschismus in seiner Epoche herauskam, war das wirklich ein großer Wurf. Ich, damals Assessor, hatte mühsam mit Bracher vom Machtvakuum geredet - und damit allerhöchstens erklärt, dass die Lehre von "checks and balances" nicht funktioniert. Nolte mit seinem Buch verschaffte allererst das gute Gewissen, von einer einheitlichen europaweiten Bewegung namens "Faschismus" sprechen zu dürfen. Zugleich damit die Anerkennung, dass Antifa-Kampf gegen Faschismus international immer noch seine Berechtigung hatte. Das Unglück Noltes: Während er geistesgeschichtlich richtig die Verwandtschaft aller europäischen Faschismen herausarbeitete, und damit eine mehr oder weniger aktive Tätergruppe benannte, können Noltes spätere Beschuldigungen nicht einmal alle deutschen Nazis, sondern am Ende nur die einsame Person Hitlers betreffen. Dass Hitler die Rattenphobie aus irgendwelchen Gruselkrimis über Russland aufgeschnappt hatte, mag ja so gewesen sein - oder auch nicht. Nur: Wer hatte solche Phobien noch? Umgekehrt gedacht: Was trieb die vielen Vernichtungsbetreiber an, die keine Rattenphobie hatten und doch enthemmt mordeten? Und was ist mit den italienischen Faschisten, die zwar die Rassengesetze von Deutschland übernahmen, aber selbst nach deutschen Mit-Nazi-Urteilen es an Verfolgungseifer außerordentlich fehlen ließen?

Mit seiner Hitler-Fixierung zerstört Nolte die ehemalige Einsicht: Ja, es hatte Millionen gegeben, die Faschisten sein wollten. Auch ohne die Zentralfigur Hitler. Und die Antisemitismus-Erklärungen, die Nolte einfielen - und die Brodkorb teilweise zu teilen scheint! Gab es denn ausschließlich den östlichen Juden - den phantasierten Bolschewiken - als Feind? Man muss nur einmal die volkstümlichen Karikaturen anschauen aus der Nazizeit. In fast allen zeigt sich ein Wesen mit Doppelgesicht: Eine Hand schwenkt die Sowjet-Fahne, eine andere aber hält den Dollarbeutel hoch. Dass der Kapitalist mit dem Kommunisten - und dem Gewerkschafter - heimlich zusammenarbeiten, so sehr sie sich offen bekämpfen, gehörte zu den Grundphantasien der offiziellen Propaganda. Sogar Freund Furet in Frankreich weist Nolte auf diese Verkürzung hin. (Furet 1998, S. 56). Und passte viel besser zum Überreden einer Weltkriegsnation - "dazwischen" - als alle einseitige Beschuldigung nur der Sowjet-Union.

Das alles spielte für Nolte nie eine Rolle. Verblüffenderweise für Brodkorb auch nicht. In keinem Satz wird Noltes Rolle im ehemaligen "Bund Freiheit der Wissenschaft" erwähnt. Wer damals seine Tiraden mitbekommen hat, wird sich erinnern an Angstwut voller Ekstasen gegenüber der Studentenbewegung, nicht wie sie wirklich war, sondern wie auch sie damals vor allem als eiskalte Zerstörerin phantasiert wurde. In einem fast rührenden offenen Brief an ehemalige Schüler (Nolte war einmal Studienrat gewesen) im Merkur - aus den frühen siebziger Jahren, wie ich mich erinnere - erklärt er, dass er einer der letzten war, die die Universität noch aufgenommen hätte. Sinngemäß entsprechend in einer seiner Schriften zur Universitätsreform: Jetzt fordere Dankbarkeit von ihm, das wankende Schiff zu retten. Nolte über sich selbst:

„1960 war ich ein Studienrat für Alte Sprachen, der noch nie eine Zeile veröffentlicht hatte: Vier Jahre später berief mich die Universität Marburg auf einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte. (...) Und so fühle ich mich in der Tat verpflichtet, eine Universität zu verteidigen, die man zu Unrecht generell der Inaktivität und des Immobilismus bezichtigt, um so mehr, als ich der Überzeugung bin, dass die deutsche Universität durch Berufungen wie die meine in jenen Zustand der Elefantiasis und der Inhomogenität der Fakultäten gelangt ist, welcher heute der wichtigste Grund für die eigenartige Schwäche ihrer Reaktionen und für den auffallenden Mangel an Selbstgewissheit ist.“ (Nolte 1968, S.43)

Erst damals nahm er die Rettergebärde an, die dessen, der als letzter eine Welt der Werte zu retten hat. Erst seit der Zeit bekamen seine Schriften den angstvoll-verhetzten Zug und die partielle Sympathie nicht gerade für den Faschismus selbst, aber für die „Angst um die Kultur“, die in dieser ganzen Bewegung angeblich wirksam geworden sein soll. Deren Angst war seine eigene. Zum Ausmaß der Verhetzt-Seins und des Weiterhetzens des angeblich krisenfreien Denkers Nolte ein zweites Zitat, in welchem er indirekt schon damals die Polizei zu Hilfe ruft gegen eine ihm unbegreifbar gebliebene Bewegung:

„Diesen Studenten jedoch muss gesagt werden, dass ihre Methode, die Gesellschaft von der Universität aus zu revolutionieren, zwar ein neuartiges und in gewisser Weise geniales, dennoch aber ein feiges und letzten Ende kein erfolgversprechendes Rezept ist. Sobald physische oder quasi-physische Gewalt ins Spiel kommt, sind 100 Studenten 100 Professoren weit überlegen, aber gegenüber einigen gutbewaffneten Polizisten sieht die Bilanz anders aus. Keine Gesellschaft lässt sich durch noch so ingeniös und verkleidete Gewalt umstürzen, ohne dass sie es merkte und mit Gewalt reagierte. Erst der Mut, vor Gewehrläufe zu treten, macht die Revolutionen der extremen Linken respektabel, wenn ihre Ergebnisse auch letzten Endes alles andere als ‚links‘ zu sein pflegen.“ (Nolte 1968, S. 26)

Der Aufruf ist von 1968, 1971 wurde Petra Schelm erschossen. Wer warf den ersten Stein?

Geisteswissenschaft reicht nicht aus

Der Ausgangspunkt der Verirrungen Noltes liegt wahrscheinlich in seinem ausschließlich geisteswissenschaftlichen Zugang zum Problem des Faschismus. So einleuchtend der Nachweis der geistigen Übereinstimmungen - nach Büchern, Lehrern und Lehren, Manifesten - so unzulänglich die Ursachenforschung.

Ein Begriff, den Nolte höchstens als Zitat einmal verwendet: "Imperialismus". Geht man nämlich gar nicht von den angeblich neuen Ideen aus, sondern von den durchgehaltenen Einfluss- und Eroberungstendenzen der herrschenden Klassen, stößt man sofort in Deutschland auf die "Alldeutschen" - auf Ludendorff mit seinen Anschlusswünschen gegenüber dem Baltikum und die Ukraine, auf den deutschen Wirtschaftstag 1930. Da mochten Essenzen mancher Art in den Seelenbräu geschüttet werden. Herauskommen musste immer eins: Wir brauchen das Land im Osten! In diesem grausigen Chor sang Hitler schließlich die erste Stimme. Aber es wäre beim überhitzten Kreischen eines Blähhalses geblieben, hätte die Begleitung in Bass und Sopran gefehlt.

Soll das heißen, dass Eindringen in die Psyche einzelner Täter historisch auf jeden Fall verfehlt wäre? Das kann es nicht. Es muss nur von der materiellen Lage einer ganzen Schicht ausgegangen werden. Nicht: Wie ist ein unnennbares Wesen Hitler wirklich? Sondern: Wie geht der vereinzelte und verlorene mit einer Lage um, die ihn wie alle betrifft? Wie kann er - gerade er - sie so interpretieren, dass Tausende sich mitinterpretiert, miterkannt fühlen? Um nur ein Beispiel zu geben: Der Lebensweg Hitlers konnte vielen hingestellt werden als der eines besonderen Tellerwäschers zum Millionär, allerdings nicht amerikanisch gesehen als Lohn der Leistung. Sondern als Kampf, Hochstrampeln gegen finsterste Mächte, die ihn wie alle bedrohen. Ist ein Wesen einmal zu solcher Höhe hochgeprügelt worden, wird es dann seine geheimen Vorstellungen "auch noch" durchsetzen wollen, sich den Mut dazu zusprechen, sich selbst vormachen, er stelle den Inbegriff des "Volksgeistes" dar?

Das nur als Anregung zu einer ganz anderen Behandlung des Problems. Brodkorb und seine Mitarbeiter tragen nichts dazu bei.

Zusätzlich verwendete Literatur

Furet, Francois / Ernst Nolte 1998: Feindliche Nähe. Kommunismus und Faschismus im 20.Jahrhundert. Ein Briefwechsel. Herbig, München.

Nolte, Ernst 1968: Sinn und Widersinn der Demokratisierung in der Universität. Rombach, Freiburg.

Nolte. Ernst 1993: Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus. Propyläen, Berlin

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Die Rezension erschien in kürzerer Fassung zuerst bei trueten.de.

Matthias Brodkorb (Hg.) 2011:
Singuläres Auschwitz? Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre "Historikerstreit".
Adebor Verlag, Banzkow.
ISBN: 978-39809375-9-7.
180 Seiten. 14,90 Euro.
Zitathinweis: Fritz Güde: Historikerstreit: Spülwasser im Cocktailglas! Bitte selber saufen. Erschienen in: Rechte Lebenswelten. 9/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/c/931. Abgerufen am: 28. 03. 2024 22:34.

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Matthias Brodkorb (Hg.) 2011:
Singuläres Auschwitz? Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre "Historikerstreit".
Adebor Verlag, Banzkow.
ISBN: 978-39809375-9-7.
180 Seiten. 14,90 Euro.