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Der Anarchist und der Alpenverein

Buchautor_innen
Wanderverein Bakuninhütte e.V. (Hg.)
Buchtitel
„Rebellen-Heil"
Buchuntertitel
Fritz Scherer: Vagabund, Wanderer, Hüttenwart, Anarchist.
Der Wanderverein Bakuninhütte e.V. sorgt mit der Herausgabe der Gedenkschrift „Rebellen-Heil“ dafür, dass der Berliner Anarchosyndikalist, Vagabund und Hüttenwart Fritz Scherer nicht in Vergessenheit gerät.

Die Geschichte hat viele bekannte Persönlichkeiten und „Klassiker“ des Anarchismus zu bieten, die zum Glück und zurecht nicht vergessen werden. Weil die anarchistische Bewegung sich aber nicht auf solche „Ikonen“ beschränken sollte, wenn sie ihre Geschichte dokumentiert und an diese erinnert, tut es gut, wenn Bücher publiziert werden, die sich Menschen widmen, die schon fast in Vergessenheit geraten sind und auch nie den Rang von „VIPs“ in der Bewegung hatten. Der Berliner Anarchosyndikalist, Buchbinder, Vagabund und Hüttenwart der Bakuninhütte in Meiningen, Fritz Scherer (1903–1988), ist einer davon. Um dem Vergessen entgegenzuwirken, hat der Wanderverein Bakuninhütte e.V. eine Gedenkschrift veröffentlicht.

Fritz Scherer und die Bakuninhütte

Die Hütte, von der Scherer ab 1930 immer wieder Hüttenwart war und die von der Meininger Ortsgruppe der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) ab 1925 gebaut und nun vom Wanderverein Bakuninhütte e.V. wieder revitalisiert wurde, hat eine lange und abenteuerliche Geschichte – von der Entstehung, dem dazu gegründeten „Siedlungsverein zur gegenseitigen Hilfe“ (der aus FAUD-Mitgliedern aber auch aus Leuten aus der Umgebung bestand, die keine Mitglieder waren) bis zur Konfiszierung durch die Nazis. Den besten Eindruck von dieser Geschichte ebenso wie von Scherers Zeit als Hüttenwart erhält man in dem von ihm selbst verfassten Artikel „Bakunin-Hütte“. Hier hat er eher anekdotenhaft seine Erinnerungen zu diesem Thema niedergeschrieben. Der Rest des Buches besteht aus Gedichten Scherers und Nachrufen. Letztere sind teilweise recht rührend geschrieben und verleiten einem beim Lesen immer wieder zum Schmunzeln. So schreibt beispielsweise Rolf Raasch:

„Fritz Scherer war ein Veteran anarchosyndikalistischer Polit-Geschichte und zugleich Mitglied des Alpenvereins. Damit war er für uns Junganarchos Mitte der 1970er Jahre eine Art personifizierter Kulturschock. Diese Kombination aus politischer Radikalität und heimattreuer Naturverbundenheit beschreibt drastisch den vermeintlichen kulturellen Spagat, den Fritz zeitlebens in den Augen von Subkulturanarchos vollzogen haben muss.“ (S. 54)

Hans Jürgen Degen schildert in seinem Nachruf eine Begegnung mit Fritz Scherer als er selbst noch als „Neuer“ und „Nachwuchs“ in der Berliner Anarcho-Szene galt:

„Unversehens hechtete Fritz wieselflink (was seine Natur war) von seinem großen Bücherregal hin und her, zog Buch für Buch heraus und türmte sie vor mir kommentierend auf: ‚Das sind die Werke von Bakunin, das ist Souchys Spanienbuch!’ Und so ging das weiter. Mir blieb nur das Staunen. Was sollte ich schon sagen. Fast alles war für mich Neuland.Verschmitzt lächelnd genoss Fritz sichtlich meine Verblüffung. ‚Na, junger Freund, was sagen Sie nun? Alles von den Nazis gerettet. Die wenigsten Bücher sind von mir selbst. Meine Bücher haben die Nazis kassiert. Aber wenn ein Genosse stirbt, hole ich seine Bücher ab, sonst landen sie bei der Stadtreinigung.’ (…) Ein Jahr später, nach sehr vielen Begegnungen mit Fritz: ‚So, lieber Freund, jetzt kennen wir uns genau ein Jahr. Wir können uns jetzt duzen. Ich bin der alte Fritz.’ (Das Duzen war zur damaliger Zeit auch unter ‚Genossen’ noch nicht automatisch üblich.) Zur Feier des Tages gab es eine Flasche Bier. Eine große Geste von Fritz, dem eingeschworenen Alkoholgegner. Und Fritz trank mit.“ (S. 49)

Obwohl einer Gedenkschrift inhaltlich sicherlich Grenzen gesetzt sind, vermisst man ganz generell im Buch jedoch zwei Dinge: a) eine gehaltvolle (Kurz)Biografie von Fritz Scherer und b) etwas Vergleichbares zur Geschichte der Bakuninhütte. Das, was zu Beginn die stichwortartige „Lebenschronik“ Scherers zu bieten hat, hätte, mit etwas Bearbeitung, ein schönes Portrait dieses engagierten Anarchosynikalisten werden können – etwas, was man ohnehin kaum oder überhaupt nicht findet.

Der Film

Ähnliches könnte auch über die VagabundInnenbewegung gesagt werden, bei der Scherer mindestens ebenso engagiert war wie in der FAUD. Dieser Themenbereich wird aber glücklicherweise durch den Film abgedeckt, der mit dem Buch auf einer DVD mitgeliefert wird. Scherers Wanderschaften brachten ihn bis nach Budapest und da er sich als Teil der damaligen VagabundInnenbewegung verstand, ist er auch Teil des Films „Landstraße, Kunden, Vagabunden“, der neben Scherer einige weitere VertreterInnen der VagabundInnenbewegung oder „Kunden“ (Selbstbezeichnung von Menschen, die sich als Teil der VagabundInnenbewegung sahen), wie Gerhart Bettermann, Jo Mihaly, Jonny Rieger und Hans Bönnighausen, zu Wort kommen lässt. Da man im Buch kaum etwas über diese anarchistisch inspirierte Bewegung findet, ist es gut, dass die DVD beigelegt wurde. So erhält man viele wichtige Informationen, die in der Gedenkschrift selbst nicht dargelegt werden. In der ausgezeichneten zweiteiligen Dokumentation erfährt man u.a. einiges über Gregor Gog (eine zentrale Figur der VagabundInnenbewegungen) und seine inhaltliche Kehrtwende vom Anarchisten hin zum Parteikommunisten (mit einhergehender Schwächung der sich zu organisieren beginnenden VagabundInnenbewegung), über den „Vagabundenkongress“ von 1929 (von Gog organisiert, bei dem auch Scherer teilnahm, der von vielen „Kunden“ aber kritisch betrachtet wurde) oder über die vielfältige Kunstszene, die sich in und aus der Bewegung entwickelte.

Obwohl man sich beim Lesen der Gedenkschrift teilweise ausführlichere Informationen zu bestimmten Themen gewünscht hätte, ist „Rebellen-Heil“ inklusive der DVD ein schönes Stück anarchistischer Geschichte, das an einen Menschen erinnert, dem man, nach der Lektüre, sehr gerne auch selbst einmal begegnet wäre.

Wanderverein Bakuninhütte e.V. (Hg.) 2010:
„Rebellen-Heil". Fritz Scherer: Vagabund, Wanderer, Hüttenwart, Anarchist.
Karin Kramer Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-87956-350-0.
64 Seiten. 19,80 Euro.
Zitathinweis: Sebastian Kalicha: Der Anarchist und der Alpenverein. Erschienen in: Debatten und Praxen des Anarchismus. 11/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/c/948. Abgerufen am: 19. 04. 2024 07:34.

Zum Buch
Wanderverein Bakuninhütte e.V. (Hg.) 2010:
„Rebellen-Heil". Fritz Scherer: Vagabund, Wanderer, Hüttenwart, Anarchist.
Karin Kramer Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-87956-350-0.
64 Seiten. 19,80 Euro.