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Der doppelte Kampf

Buchautor_innen
Silke Lohschelder / Liane M. Dubowy / Inés Gutschmidt
Buchtitel
AnarchaFeminismus
Buchuntertitel
Auf den Spuren einer Utopie
Mit „AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie“ liegt ein exzellenter Einführungsband vor, der nichts an Aktualität eingebüßt hat.

Längst nicht nur als historische Betrachtung ist das 2009 in der zweiten Auflage erschienene Buch „AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie“ für anarchistisches Denken und herrschaftsfreie Praxis relevant. Etliche Positionen historischer Anarchistinnen, die darin vorgestellt werden, sind hochaktuell für libertäre Zusammenhänge. Kurz gesagt: Diese exzellente Einführung in anarchafeministische Theorie und Praxis ist ein Muss für alle Anarchist_innen, die Antisexismus nicht in ein postrevolutionäres Morgen vertagen – und gleichsam für die, die sich wundern, dass eine solche Praxis ihre verdiente Kritik erfährt.

Silke Lohschelder, Liane M. Dubowy und Inés Gutschmidt unterteilen das Buch in drei Teile. In „Anarchistische Theorie, Geschlechterverhältnis und Frauenrollen“ werden nach einer kurzen allgemeinen Einführung in anarchistische Theorie die Ideen und Kurzbiographien Proudhons, Bakunins und Kropotkins dargestellt. So beeindruckend diese Ideen und die jeweiligen Kämpfe sind, so erschreckend sind die von diesen Herren formulierten Standpunkte zur Geschlechterpolitik. Während Proudhon sich durch expliziten Antifeminismus hervortut, bekennt sich Bakunin zwar theoretisch zur Gleichberechtigung, lehnt aber eine konkrete Unterstützung der Kämpfe von Frauen ab. Kropotkin schließlich formuliert zwar den Anspruch der Gleichberechtigung, verbleibt aber in den gesellschaftlichen (patriarchalen) Rahmenbedingungen seiner Zeit. Lohschelder fasst zusammen, dass im historischen Anarchismus Frauen zwar mitunter „mitgedacht“ wurden, das Wissen um faktische soziale Ungleichheit aber schlicht keine Konsequenz nach sich zog oder feministische Kämpfe gar als „bürgerlich“ diffamiert wurden.

Zwischen Feminismus und Anarchismus

Im zweiten Teil des Buches werden Anarchistinnen und anarchistische Frauenorganisationen vorgestellt und ihre Ideen historisch eingebettet. Louise Michel, Anarchistin und Kämpferin der Pariser Kommune, sah den Kampf der Frauen als Teil anarchistischer Auseinandersetzungen. Eine Integration von Frauen in bestehende Machtverhältnisse lehnte sie ab. Michel bestritt – so wie viele Anarchistinnen – einen doppelten Kampf. Als Anarchistin kämpfte die gegen den Staat, als Frau kämpfte sie gegen ihre eigenen Genossen. Dieser Fakt zieht sich durch die Biografien aller hier vorgestellten Frauen und wird etlichen Leserinnen bekannt vorkommen.

Inés Gutschmidt beleuchtet die Geschichte von Anarchistinnen und Sozialrevolutionärinnen im zaristischen Russland und erläutert den Prozess, der zum Ausschluss der Frauen von direkten Aktionen führte. An einer 1879 stattfindenden Konferenz, die die Tötung des Zaren vorbereitete, durften sie nicht teilnehmen. Mit der Fokussierung auf den Zarenmord wurden neben der Idee der Gleichberechtigung auch die Prinzipien der Dezentralisierung, des Respekts vor dem Einzelnen und der Einzelnen, der Konsensstrukturen und der Volksbezogenheit über Bord geworfen. Sie mussten dem einen Ziel weichen. Um Spaltungen zu vermeiden ordneten sich die sozialrevolutionären Frauen dieser Linie unter, konstatierten aber gleichsam: »unsere(n) Herzen sprachen anders«. (S. 60) Obgleich beispielsweise die Revolution 1917 mit spontanen Massendemonstration und Massenstreiks von Textilarbeiterinnen begann, obwohl Frauen immer an revolutionären Momenten beteiligt waren, blieb ihnen auch in Russland die Anerkennung ihrer Genossen verwehrt. Abgerundet wird dieses spannende Kapitel mit der Vorstellung der russischen Sozialrevolutionärin Vera Figner, einer „Frau der Tat, eine[r] Pragmatikerin der sozialen Revolution“. (S. 77)

In dem Kapitel zu der wohl bekanntesten Anarchistin – Emma Goldman – werden nicht nur deren Ansichten zur Geschlechterpolitik deutlich, sondern ebenfalls – und auch das zieht sich durch alle vorgestellten Zusammenhänge – die Diskrepanz zwischen „öffentlich vertretener Theorie und privat gelebter Praxis im Leben anarchistischer Männer“ (S. 83). Johann Most beispielsweise kommt nicht wirklich gut weg, geht es um Geschlechterfragen. Goldman hingegen war darum bemüht, ihre politischen Überzeugungen praktisch in ihrem eigenen Leben umzusetzen. Sie betonte den Wert des politischen Verhaltens im persönlichen Umfeld. In Ablehnung des auch in anarchistischen Kreisen herrschenden Hauptwiderspruchsdenkens waren Goldman politische Reformen nicht suspekt. Die sofortige Verbesserung der Lebensbedingungen von Frauen stehe dem Kampf um eine befreite Gesellschaft nicht entgegen – eine Position, die auch zeitgenössische, allzu binär geführte Debatten um Reform und Revolution bereichern kann. Auch Goldmans Ausführungen zu Ehe, Kleinfamilie, Sexualität und Prostitution sind heute lange nicht obsolet. Obwohl Emma Goldman wenige Verbündete in der männlich und patriarchal dominierten anarchistischen Bewegung hatte, obwohl sich ihre Genossen allzu oft als ihre politischen Gegner entpuppten, schloss ihre Utopie die Befreiung der Männer immer mit ein.

Antifeminismus

In deutschen anarchistischen Kontexten – so wird es in dem Kapitel „Die namenlose Geschichte der Frauen in der deutschen anarchistischen Bewegung“ beschrieben – sahen sich Frauen mit einem proletarischen Antifeminismus konfrontiert.

„Frauen wurden in der Arbeiterschaft als (Billig)-Konkurrenz am Arbeitsmarkt betrachtet, wurden vom Kapital nur zu oft als industrielle Reservearmee zum Lohndumping eingesetzt. So waren die Männer in der Arbeiterbewegung oftmals die vehementesten Vertreter der Zuweisung von Frauen in den häuslichen Bereich“. (S. 101)

Die sich Anfang der 1920er Jahre gründenden syndikalistischen Frauenbünde sahen sich zudem dem Vorwurf der Spaltung, des Dualismus und des Separatismus ausgesetzt. Die stetige Sabotage männlicher Anarchisten brachte die Bünde schon Mitte der 1920er zum Erliegen.

In Spanien sah es nicht besser aus. Im Text „Mujeres Libres – die Freien Frauen“ werden ähnliche Anfeindungen gegen autonome Organisierungen anarchistischer Frauen beschrieben. Nicht die patriarchalen Verhaltensweisen, sondern die daraus resultierende separate Organisierung wurde von den Männern der CNT als „Zwietracht“ empfunden. Auch die Frauen der Mujeres Libres befanden sich permanent im Zwiespalt zwischen Ablehnung der bürgerlichen Frauenbewegungen und männerdominierter anarchistischer Zusammenhänge. Der zweite Teil des Buches endet mit einer Darstellung des anarchistischen Feminismus in Italien der 1970er und 1980er Jahre und einiger ausgewählter Biographien.

Reflexion statt Rekrutierung

Im dritten Teil des Buches werden zunächst – in aller Kürze – feministische Positionen um Gleichheit und Differenz und um das Verhältnis von sex und gender dargestellt und Radikalfeminismus, Ökofeminismus und Schwarzer Feminismus beschrieben, wobei Lohschelder konstatiert, dass letzterer mit dem Anspruch, alle Unterdrückungsverhältnisse zu beenden, „Überschneidungen zu anarchafeministischen Ansätzen auf[weist]“. (S. 155) Von diesen theoretischen Einführungen aus erläutert Lohschelder das in den 1970ern entworfene Konzept anarchafeministischer Theorie nach Peggy Kornegger und Carol Ehrlich. In vier Punkten wird die anarchafeministische Grundsatzerklärung zusammengefasst: 1. Feministinnen sind „natürliche Anarchistinnen“ (was Lohschelder zurückweist). 2. Anarchismus und Feminismus entsprechen und ergänzen sich. Beide befürworten die permanente Revolution. 3. Der Anarchismus kann dem Feminismus ein Revolutionskonzept geben. 4. Der Feminismus bereichert den Anarchismus um die Einbeziehung unterschiedlicher Unterdrückungskonzepte. Dabei, so Lohschelder, weicht der Feminismusbegriff Korneggers und Ehrlichs deutlich von den in den 1970er Jahren gängigen Definitionen und Realitäten ab und übersieht, dass ein Großteil feministischer Bewegungen bürgerlich und weiß war und oftmals schlicht um eine Gleichstellung innerhalb des bürgerlich-kapitalistischen Systems kämpfte.

Diesen Grundthesen jedenfalls folgt ein Vorschlag zur Praxis, die sich auf drei Ebenen abspielen müsse: auf der erzieherischen (also der des gegenseitigen Austauschs), auf der ökonomisch/politischen (durch Sabotage, Streik und Boykott) und auf der persönlich/politischen (durch das Experimentieren mit alternativen Lebensformen). Auch diese Darstellung des selbstverständlichen Zusammenspiels zwischen „sozialanarchistischen“ und „individualanarchistischen“ Praxen kann, so denke ich, aktuelle, teils polemisch geführte Debatten entschärfen.

Dieses anarchafeministische Konzept wurde in anarchistischen Zusammenhängen der BRD stark rezipiert, allerdings, so stellt es Lohschelder fest, eher um sich den Feminismus einzuverleiben als auf Grund einer selbstkritischen Auseinandersetzung der männerdominierten anarchistischen Szene. Mehr noch: Die feministische Bewegung wurde sich einverleibt, indem Feminismus als genuin anarchistisch aufgefasst wurde. „Die anarchistische Diskussion um den Anarchafeminismus geriet so zur arroganten männlichen Spitze gegen den Separatismus der autonomen Frauenbewegung und wurde in diesem Sinne (…) begeistert aufgegriffen“, (S. 156) so wird Friederike Kamann zitiert. Statt sich dezidiert mit dem eigenen Sexismus auseinanderzusetzen, setzte sich also der Vorwurf der Spaltung fort.

Lohschelder resümiert, dass anarchafeministische Konzepte sowohl ihre Entsprechungen in den Kämpfen der hier vorgestellten Frauen und Frauenorganisationen finden, als auch neuere feministische Diskussionen um beispielsweise Intersektionalität anarchafeministischen Ansätzen entgegenkommen. Der Anarchismus allerdings muss den Feminismus als gleichwertige Theorie begreifen, statt ihn sich als quasi natürlichen Bestandteil einzuverleiben. Und er darf sich nicht in Theorie erschöpfen sondern muss (endlich) praktische Konsequenz aus den Kämpfen anarchistischer Frauen ziehen und die weitgehende geschlechterpolitische Ignoranz hinter sich lassen, die ursächlich für separate Organisierungen war und ist.

Silke Lohschelder / Liane M. Dubowy / Inés Gutschmidt 2009:
AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie. 2. Auflage.
Unrast, Münster.
ISBN: 3-89771-200-8.
196 Seiten. 13,00 Euro.
Zitathinweis: Regina Wamper: Der doppelte Kampf. Erschienen in: Debatten und Praxen des Anarchismus. 11/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/c/950. Abgerufen am: 29. 03. 2024 16:55.

Zum Buch
Silke Lohschelder / Liane M. Dubowy / Inés Gutschmidt 2009:
AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie. 2. Auflage.
Unrast, Münster.
ISBN: 3-89771-200-8.
196 Seiten. 13,00 Euro.