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Intersex? – Revisited!

Ein rotes Buchcover, auf dem in schwarz-weißer Schrift der Titel und der Autor stehen. Die Grundschrift ist schwarz, einzelne Binnenwörter sind weiß hervorgehoben, wie beispielsweise "sex" und "inter". Die einzelnen Wörter des Titels und Untertitels stehen versetzt zueinander. Im unteren Teil steht die Reihe und der Name des Verlags.
Buchautor_innen
Heinz-Jürgen Voß
Buchtitel
Intersexualität – Intersex
Buchuntertitel
Eine Intervention
In der aktuellen Debatte um Intersexualität plädiert Voß im Sinne der Betroffenen für das konsequente Ende der medizinischen Eingriffe an Neugeborenen und Kleinkindern.

Rund zwanzig Jahre des politischen Protests hat es gebraucht, bis die mit uneindeutigem Geschlecht geborenen Intersexe auf staatlicher Ebene auf sich aufmerksam machen konnten: Die bis dato an ihnen verübten medizinischen Eingriffe könnten durch Verweis auf die Verletzung von Grund- und Menschenrechten bald ihr jähes Ende finden. Könnten. Denn in seiner im Februar dieses Jahres vorgelegten empfehlenden Stellungnahme nimmt der Ethikrat – ein von der Bundesregierung beauftragtes unabhängiges Gremium wissenschaftlicher „Expert_innen“ – zwar deutlich Partei für die Selbstbestimmung der Intersexe und kritisiert darin die Deutungshoheit der Mediziner_innen. Aber er kann sich vorerst nicht zu der Forderung der Betroffenen durchringen, die medizinisch nicht notwendigen chirurgischen Operationen und Hormontherapien, die vielfach als leidvoll und traumatisierend beschrieben wurden und werden, rigoros zu beenden. Stattdessen soll „nach umfassender Abwägung der medizinischen, psychologischen und psychosozialen Vor- und Nachteile“ weiterhin eine „operative Angleichung der Genitalien an das Geschlecht“ möglich sein (Deutscher Ethikrat 2012, S. 174). Die zunächst emanzipatorische Kritik des Ethikrates, intersexuelle Kinder nicht länger ungefragt medizinisch in die Zweigeschlechtergesellschaft einzupassen, sondern die Gesellschaft mit jener Vielfalt und Differenz, die es immer gab und gibt, zu konfrontieren, bleibt an jenem Punkt dem Status quo verhaftet, wo sie Geschlecht wieder als grundsätzlich männlich und weiblich versteht.

Dies geschieht in der Unterscheidung von das Geschlecht vereindeutigenden und das Geschlecht zuordnenden Operationen:

„Im Folgenden werden medizinische Interventionen als geschlechtsvereindeutigend charakterisiert, wenn sie darauf abzielen anatomische Besonderheiten der äußeren Geschlechtsorgane, die bei ansonsten eindeutiger geschlechtlicher Zuordnung bestehen, an das existierende Geschlecht anzugleichen. Als geschlechtszuordnend werden Interventionen bezeichnet, die bei tatsächlich nicht möglicher Zuordnung den Zustand der Uneindeutigkeit beenden und den Körper einer Person (…) in Richtung eines Geschlechts formen, ihr also ein bestimmtes Geschlecht zuordnen.“ (Deutscher Ethikrat 2012, S. 27f., Herv. i. O.)

Während bei der einen Gruppe „wirklich“ zwei Geschlechter ununterscheidbar vorlägen, die nur nach Zustimmung der Betroffenen, das heißt in entsprechend mündigem Alter, vereindeutigt werden dürften, wären bei der anderen Gruppe deshalb weiterhin ungefragt Eingriffe erlaubt, weil deren Geschlecht „nicht wirklich“ ununterscheidbar sei: Betroffene dieser Gruppe besäßen bereits ein eindeutiges Geschlecht, wenn nicht eine Stoffwechselerkrankung zur Ausbildung gegengeschlechtlicher Geschlechtsmerkmale geführt hätte. Der Ethikrat hält es deshalb für ethisch vertretbar, einen solchen Menschen gegen seine Zustimmung geschlechtsangleichenden Operationen zu unterziehen. Statt, wie er vorgibt, der „natürlichen Vielfalt“ Anerkennung zu zollen, erkennt der Ethikrat bei einigen ein ursprüngliches Geschlecht, das er freizulegen gedenkt. Er schielt weiterhin durch jene Zweigeschlechterbrille, auf die er doch verzichten wollte.

Voß´ Intervention in die dargestellte Debatte zielt auf die konsequente Beendigung aller geschlechtsangleichenden Operationen ohne Zustimmung der Betroffenen. Seine Argumentation aber überrascht auf den ersten Blick. Denn auf die Thesen seiner 2010 veröffentlichten und positiv aufgenommenen Dissertation nimmt er nur in Teilen Bezug. Während er dort „die bisher verbreitete Auffassung, wonach sich 'Geschlecht' 'weiblich' oder 'männlich' auspräge“ (Voß 2010, S. 319, Herv. i. O.), widerlegte, unterlässt er es, diese These im vorliegenden Unrast-Bändchen in Sachen Intersexualität zu entfalten. Statt die Unterscheidung von geschlechtsvereindeutigenden und -zuordnenden Eingriffen zurückzuweisen, die erst die argumentative Voraussetzung für eine Fortsetzung der Eingriffe schafft, beschränkt sich Voß zum einen darauf, weitere, vom Ethikrat nicht verwendete Studien anzuführen, die das von den Betroffenen artikulierte Leid untermauern, zum anderen, die Praxis der Operationen zu historisieren. Beides ist keineswegs falsch oder illegitim, im Gegenteil: Es ermöglicht ein vertieftes Verständnis über die Lebenssituation der Intersexe im Laufe der Jahrhunderte und heute. Aber hilft eine derart brave Intervention gegenüber einem Bollwerk aus Medizin, Jurisprudenz, Zivilgesellschaft und Staat, das selten allein durch aussagekräftigere Studien zum Umdenken gebracht werden konnte?

Dagegen spricht, dass Voß mit seiner Art der Intervention der Heterogenität der Betroffenenperspektive Rechnung tragen wollte, weil unter den von der Mehrheit der Betroffenen favorisierten Sammelbegriff Intersexualität/Intersex unterschiedliche Diagnosen und Forderungen fallen, folglich die Gruppe der Intersexe keine homogene ist. Um nicht einen Teil der Intersexe zu übergehen und sie für queere Politikentwürfe zu instrumentalisieren, kann Voß im realpolitischen Rahmen nur mithilfe empirischer Studien zu überzeugen versuchen, dass die Geschlechtsangleichungen in Gänze ablehnungswürdig sind. Insofern zeigt sich seine Intervention auf den zweiten Blick sensibel, strategisch sinnvoll und hält, was sie verspricht: nämlich die Debatte für radikalere Forderungen offen zu halten.

Was sich unterdessen in Anbetracht der nationalsozialistischen Verbrechen und Menschenversuche noch heute hierzulande Ethik nennen darf, sollte sich grundsätzlich bescheiden geben. Eine Ethik nämlich, die ihrem Namen gerecht würde, müsste sich radikal für das Selbstbestimmungsrecht der Intersexe einsetzen und deren Maximalforderungen bedingungslos umsetzen. Sie sind es schließlich, die die eigentliche Expertise besitzen, weil sie die Konsequenzen der Eingriffe am eigenen Körper auszutragen haben. Die von Voß vorgelegte Intervention, die in gegebener Kürze begrifflich und geschichtlich in die Intersex-Bewegung einführt und die Behandlungspraxen über die Jahrhunderte nachzeichnet, stützt wissenschaftlich diesen Expert_innenstatus.

Zusätzlich verwendete Literatur

Deutscher Ethikrat 2012: Stellungnahme Intersexualität. Online hier

Heinz-Jürgen Voß 2010: Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Transcript Verlag, Bielefeld.

Heinz-Jürgen Voß 2009:
Intersexualität – Intersex. Eine Intervention.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-119-8.
80 Seiten. 7,80 Euro.
Zitathinweis: Martin Brandt: Intersex? – Revisited! Erschienen in: Polizei im Rassismus. 21/ 2012. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1058. Abgerufen am: 28. 03. 2024 10:42.

Zur Rezension
Zum Buch
Heinz-Jürgen Voß 2009:
Intersexualität – Intersex. Eine Intervention.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-119-8.
80 Seiten. 7,80 Euro.