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Reenactment, was ist das?

Buchautor_innen
Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.)
Buchtitel
Theater als Zeitmaschine
Buchuntertitel
Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven
Nach „Post-Dramatik“ und „Performanz“ ist „Reenactment“ innerhalb kürzester Zeit zum unumgänglich gewordenen, aber weitgehend unbestimmten Stichwort der Theater- und Kulturwissenschaften avanciert. Der Sammelband liefert einen Einblick in die Debatte.

Jedes Modewort bringt ähnliche Fragen mit sich: Welche Phänomene werden damit benannt und aus welcher Perspektive? Werden dadurch neue Praktiken oder neue Perspektiven auf diese Praktiken bezeichnet? In welchen kulturhistorischen, ideologischen und politischen Diskursen ist jener „neue“ Terminus eingebettet? Und schließlich: Welche Erkenntnisse verspricht diese neue Terminologie? Als Reenactment bezeichnen die Herausgeber von „Theater als Zeitmaschine“ zunächst das „Nachstellen historischer Ereignisse durch Laiendarsteller an historischen Schauplätzen“ (S. 7). Die Ursprünge dieses historischen Hobbys führen die Autoren zum einen zurück auf die Vereinskultur des 19. Jahrhunderts, wo gewaltsame Konflikte als kollektives Spektakel re-inszeniert wurden, und zum anderen auf das kollektive Phänomen, historische Ereignisse ästhetisch verarbeiten zu wollen. Wer eine präzise, widerspruchslose Definition erwartet, wird allerdings vergeblich suchen, denn dies ist weder Ziel noch Anspruch der AutorInnen. Die zwölf Beiträge bieten weniger systematische Definitionsversuche als vielmehr ausführliche Beschreibungen von Phänomenen aus sehr unterschiedlichen historischen Phasen und ästhetischen Kontexten. Reenactment wird dabei entlang von Eigenschaften beschrieben, in denen eine Gemeinschaft sich um die Herstellung einer kollektiven Identität bemüht. Die zentralen Stränge des Buches bilden die Themen Reenactment als Aneignung von Geschichte, als theatrale Praxis, als Mythos- und Geschichtsschreibung sowie Reenactment und Ritual.

Reenactment als Aneignung von Geschichte

In ihrem Aufsatz „Die Wiederholung als Ereignis“ definiert Erika Fischer-Lichte Reenactment als „verkörperte Vergegenwärtigungen vergangener Ereignisse, die hier und jetzt vollzogen werden“, welche „ein spezifisches Verhältnis zur Vergangenheit herstellen und damit zugleich ein je besonderes Verständnis von Geschichte implizieren“ (S. 13). Dabei haben jede der aus sehr verschiedenen kulturhistorischen Feldern ausgesuchten Beispiele jeweils konkrete gesellschaftliche Funktionen: Die geistlichen Spiele des 15. und 16. Jahrhunderts zielten darauf ab, „die Angst der Zuschauer vor Krankheit, Gebrechlichkeit, Gewalt und Tod zu überwinden“ (S. 20), die englische Pageant-Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts diente dazu, unter Berufung auf eine gemeinsame Stadtgeschichte „eine Gemeinschaft herzustellen und eine entsprechende kollektive Identität zu ermöglichen“ (S. 25) und die Performances der New Yorker Performance Art Biennale Performa 05 lassen sich als erster Beitrag zu einer Geschichtsschreibung der Aktions- und Performance Art fassen. Genau wie mit dem Begriff des Performativen wird der Fokus auf die transformative Kraft aller Beteiligten gelegt, welche sich hier Geschichte durch Verkörperung aneignen.

Reenactment als theatrale Praxis

In seinem Beitrag „Geschichte wird nachgemacht“ befasst sich Jens Roselt mit den Zusammenhängen zwischen historischen Ereignissen und künstlerischem Reenactment (KR). Ausgehend von der Videoinstallation „Serie Deutschland“ von Hofmann&Lindholm und von der Inszenierung „Deutschland 2“ von Rimini Protokoll sucht Roselt den Begriff Reenactment für die aktuelle ästhetische Praxis fruchtbar zu machen. Dabei stellt der Theaterwissenschaftler drei Thesen auf: Erstens rücken historische Vorgänge „in andere, quere Perspektiven und [verrücken] dabei vertraute Interpretationsmuster“. Insofern „die mediale Konstruiertheit von Geschichte thematisch wird“ verweist KR zweitens „selbstreferentiell auf ihre eigene mediale Verfassung und Bedingtheit“. Drittens ist KR in erster Linie ein „sinnliches Verfahren, das in Hinblick auf die Aufführungsdimension als Praxis der Teilhabe und der Verkörperung vollzogen wird“ (S. 56).

Es ist nicht möglich über Reenactment als theatrale Praxis zu sprechen ohne dessen prominentesten Vertreter Milo Rau zu erwähnen. Der Autor von „Hate Radio“ und „Die letzten Tage der Ceausescus“ dürfte spätesten mit „Breiviks Erklärung“ (mit Sasha Ö. Soydan, 2012) und seine „Züricher“ und „Moskauer Prozesse“ als Nachstellung der Verurteilung von Pussy-Riot (2013) auch in Deutschland eine breite Öffentlichkeit genießen. In seinem Beitrag über „Die seltsame Kraft der Wiederholung“ liefert Rau seine Definition von Reenactment. Dabei geht der Regisseur von Artur Zmijewskis Arbeit „80064“ (2004) aus, in der der Holocaust-Überlebende Joseph Tarnawa seine Tätowierung neu drucken lässt, und von Rod Dickinsons Installation „The Milgram Re-enactment“ (2002), welche das Experiment von Milgram, in dem Menschen allein nach Aufforderung einer Autorität gewillt sind, ihre Mitmenschen bis zur Tode zu foltern, nachgestellt wird.

„Sie [Zmijewski und Milgram] wiederholen ihr Original scheinbar ohne jede ästhetische Haltung, in einem betont passiven Bemühen um Vollständigkeit. Kein Versuch zur Abstraktion (…), kein Gefühls-Extremismus, kein Sarkasmus, und auch kein ironisches Dandytum – nichts, was der Kunst in den hundert Jahren seit Marinettis „Manifest des Futurismus“ so lieb gewesen wäre. Es wird getan, was bereits einmal getan wurde, nicht mehr nicht weniger.“ (S. 73)

Die Diskussion über den „Sinn“ der Sache, welche Rau darin sieht, „[d]as Leben mit seinem Konvulsionen, seiner destruktiven Ziellosigkeit, seinem stupiden Materialismus und seiner unauflösbaren Vieldeutigkeit in einer reductio ad absurdum ins Zentrum aller künstlerischen Überlegungen gestellt zu haben“ (S. 77), bleibt allerdings vollkommen offen.

Reenactment als Mythos- und Geschichtsschreibung

Ausgehend von der bisher kaum erwähnten Evidenz, dass Reenactments „immer auch mit Gemeinschaftsbildung, Identitätskonstruktion und Authentifizierungsstrategien in Zusammenhang stehen“ (S. 230), nimmt Ulf Otto in seinem Beitrag in „Re: Enactment“ die kulturelle Kontingenz der spezifischen ästhetischen Praxis des Reenactments und seine „zugrunde liegende historische Konstellation in Augenschein“ (S. 231). Anstatt es von anderen Genres abzugrenzen, betrachtet Otto Reenactment als „eine spezifische zeitgenössische Geste“, welche auf seine historische Kontingenz untersucht werden soll (ebd.), wobei Otto zwei markante Parameter etabliert:

„1. Reenactments begreifen Geschichte als Erlebnisraum und den Körper als Gedenkstätte. Es ist das individualisierte Erlebnis kommunaler Zusammenhänge, das im Zentrum eines Spiels steht und sich gerade in der Alltäglichkeit des Tuns erfährt (…) 2. Reenactments suchen die Ereignishaftigkeit der Medien und die Medialität des Ereignisses. Sie übersetzen Vorbilder in materielle Erfahrungsräume und zielen in der korporalen Aneignung dieser Erfahrungsräume wiederum selbst auf die Erzeugung medialer Nachbildungen.“ (S. 235f.)

Dabei scheint der „magische Moment“ der Zeitreise das zentrale Motiv zu bilden. Hier erfährt das Individuum sich zugleich als sich selbst und als historisches Subjekt. Darin bestehe die spezifische Einfühlung des Reenactments und dessen besonderer Eindruck eines authentischen Erlebnisses (S. 240). Otto beschreibt die Praxis des Reenactments als ein „modernes Passionspiel“, in dem das Individuum sich seiner gesellschaftlichen Zwänge entledigt, um als historisches Subjekt „noch einmal durch den Schlamm der Geschichte“ (S. 244) waten zu dürfen. Reenactment als Zeitmaschine begreifen, bedeute daher „die Dinge so erleben wie sie waren“ (S. 247), was wiederum nur auf Basis von Interaktivität und somit auch nach einem vorausgesetzten Konsens geschehen kann.

Reenactment und Ritual

In „Reenactment und Ritualisierung“ etabliert Matthias Warstat eine grundlegende Unterscheidung zwischen zwei kollektiven Praktiken. Am Beispiel der Berliner Studentenproteste von 2008/2009 definiert Warstat eine rituale Handlung als die bestimmte Haltung und Einstellung der Beteiligten. Hier machen sich die Handelnden „bewußt zum Akteur(e) einer Handlung“, welche von ihnen weder ausgedacht noch bestimmt wurden (S. 217). Die handelnden Personen realisieren also eine vorausgesetzte Vorstellung, sie führen sie aus. Im Gegensatz zum Reenactment liegt die Autorschaft der ritualen Handlung – sei es Studentenproteste, Streiks, Weihnachten oder Neujahr – nicht bei den ausführenden Personen:

„Während der/die Ritualteilnehmer/in letztlich als ,sie selbst‘ oder ,er selbst‘ am Ritual teilnimmt (um dann möglicherweise subjektive Transformationen zu erfahren), entwickelt der/die Akteur/in im Reenactment ein Bewusstsein dafür, sich dem Charakter, der Figur oder der Rolle einer Person aus der Vergangenheit anzunähern.“ (S. 226)

Die berechtigte Frage danach, was Reenactors von SchauspielerInnen im Sinne der Mit-AutorInnenschaft unterscheide, bleibt hier offen.

Fazit

Auf die Frage nach den Praktiken, die mit dem Begriff Reenactment beschrieben werden, fallen die Antworten des Sammelbands „Theater als Zeitmaschine“ so unterschiedlich aus, wie der Korpus disparat ausgewählt wurde. Da weder eine systematische noch vollständige Bestimmung dessen, was Reenactment sei, angekündigt wird, dürfte jene Erwartung X weder enttäuscht noch erfüllt werden. Doch von einem Sammelband, dessen Untertitel „Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven“ lautet, dürfte mensch durchaus eine Auseinandersetzung mit den bedeutsamen zeitgenössischen Phänomenen erwarten. Bedeutende Projekte wie reenactment.de, Leipzig 1813, fecho.de und der damit einhergehende Verkauf an „authentische“ Requisiten (siehe auch reenactors.de) werden jedoch nicht zur Kenntnis genommen. Auch die berühmten Karl-May-Spiele finden keine Beachtung. Dabei stellen diese äußerst erfolgreichen Spiele eine gut dokumentierte Quelle dar, anhand derer sich sowohl Problematiken der Geschichtsschreibung als auch die künstlerische Verarbeitung von Geschichte in Bezug zur Inszenierung von Weißsein, Heldentum und Kolonialphantasien gut untersuchen ließen. Bis auf den Beitrag von Ulf Otto wird auf eine kulturhistorische, ideologische und politische Kontextualisierung von Begrifflichkeit und Praxis des Reenactment leider verzichtet, wodurch der Eindruck einer Beliebigkeit und einer Austauschbarkeit des Begriffs entsteht.

Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.) 2012:
Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven.
Transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-1976-8.
264 Seiten. 27,80 Euro.
Zitathinweis: Dr. Dr. Daniele Daude: Reenactment, was ist das? Erschienen in: Gesellschaft im Neoliberalismus. 29/ 2013. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1136. Abgerufen am: 29. 03. 2024 07:10.

Zum Buch
Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.) 2012:
Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven.
Transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-1976-8.
264 Seiten. 27,80 Euro.