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Um die Ecke gedacht

Buchautor_innen
Cindy Ballaschk, Claudia Johann, Maria Elsner, Elisabeth Weber
Buchtitel
machtWORTE!
Buchuntertitel
26 und mehr Anregungen Sprache immer wieder neu zu leben
Das Alphabet-Bilderbuch erkundet in 26 Illustrationen Widersprüche, Doppeldeutig- und Einseitigkeiten, die sich zwischen Sprache und Wirklichkeit auftun, und zielt auf einen bewussteren Umgang mit sprachlichen Konzepten.

Cowboystiefel und Blindenstock, Hausschlappen, Turnschuhe, Stiefel, Kinderschuhe auf einem Rollstuhl oder gänzlich barfuß – das vierte Bild im Alphabetbuch machtWORTE! geht der Frage nach, wer eigentlich „die Deutschen“ seien, und gibt im Glossar folgende Antwortmöglichkeit, die als Ausgangspunkt für eine tiefer gehende Diskussion mit den jüngeren Leser_innen dienen soll:

„Oft wird von den Deutschen als homogener Gruppe gesprochen. So einheitlich, wie sie imaginiert wird, ist diese Gruppe nicht. Viele Personen werden in diesem exklusivem Konzept nicht mitgedacht. Die Idee einer deutschen Nation, funktioniert generell über zum Beispiel rassistische, klassistische, (…) Ausschlüsse. Wer entscheidet, wer in Deutschland (über)leben darf und wer nicht? Wer bestimmt, was beziehungsweise wer deutsch ist?“

Auf diese Weise ist das gesamte Buch aufgebaut, das für jeden Buchstaben des Alphabets eine Doppelseite bereithält: Die linke Seite ist jeweils leer geblieben aus ästhetischen Erwägungen oder für eigene Gedanken, die rechte Seite zeigt die jeweils zweifarbige Illustration eines Wortspiels, einer Frage oder eines Satzes. Das Glossar am Ende des Buches macht Vorschläge, in welche Richtungen die Illustrationen diskutiert werden können. Thematisch behandelt das Wortbilderbuch unter anderem Zweigeschlechtlichkeit, Körpernormen, Intergeschlechtlichkeit, Identitäten, Familienkonstellationen und Solidarität. Sein Ziel ist die sprachliche Sensibilisierung jüngerer Menschen, die einer vereinnahmenden Welt gegenüber stehen, die eine Trennlinie zwischen Wir und Anderen, Deutschen und Ausländer_innen, Männern und Frauen, Ordnung und Chaos, Sinn und Unsinn, gezogen hat und notorisch die ersteren gegenüber den zweiten bevorzugt.

Das genannte Beispiel ist eine der gelungeneren Illustrationen des Buchs, das immer da am stärksten ist, wo Bild und Wort eine nachvollziehbare Symbiose eingegangen sind, sodass sich die dahinterstehende Thematik leicht herausschält. So macht sich bereits beim Anschauen der Widerspruch auf zwischen der Kollektivbezeichnung „die Deutschen“ und der Vielfalt der realen Menschen, die unter dieser kollektiven Zuschreibung geführt werden. Jungen Leser_innen kann im besten Falle auf diese Weise ein stark abstrakter Begriff wie Nation näher gebracht werden, ohne soziale Kategorien wie Hautfarbe und Religion zeichnerisch in den Mittelpunkt zu stellen und stereotype Zeichnungen zu provozieren.

Ein weniger gelungenes Beispiel ist der Buchstabe N. Es zeigt eine männliche Meerjungfrau, einen „Nixer“, der im Mondlicht von einem stempelnden Beamtenfisch die Absolution erhält, normal zu sein. Im rechten Bildrand prangt die Alliteration: „Die Nächstenliebe des Norm_Aals macht den Nixer normal“. Das Glossar schreibt hierzu: „Anerkennung ist die Voraussetzung einer glücklichen Existenz und ermöglicht ein Gefühl der Zugehörigkeit. Wer oder was wird als normal anerkannt und warum gibt es überhaupt eine Unterscheidung in normal und nicht-normal?“

Dieses hintergründige Beispiel ringt um sprachliche und zeichnerische Kreativität, widersteht aber selbst nach mehrmaliger Betrachtung einem Verstehen, sodass die Dechiffrierungsversuche statt zu Erkenntnisgewinn, zu Verdruss führen können. Die „Lösung“, also die Infragestellung von Normalität, ergibt sich nur schwer aus sich selbst heraus, weil die an die Geschlechterproblematik geknüpfte sprachliche Neuerfindung „Nixer“ durch das alliterierende Wortspiel zusätzlich überfrachtet wird. Da der Befund der Überfrachtung auch für einige andere Bilder zutreffend ist, ist das Glossar ein nicht zu unterschätzender Hilfsapparat, den man bei der Lektüre nicht missen möchte.

Obwohl es ein Mitmachbuch ist, das auf die Beteiligung eines erwachsenen Gegenübers setzt und seinen Mehrwert in den Gesprächen hat, die mithilfe dieses Gegenübers entstehen sollen, wird nicht erst in den schwerer zugänglichen Illustrationen eine Hürde deutlich, die die größte Schwäche des Buchs ausmacht: Die anwesende Bezugsperson benötigt ein linkes oder gesellschaftskritisches Grundverständnis, um die zu hinterfragenden Konzepte überhaupt erst als kritikwürdige begreifen und diskutieren zu können. Progressive Kinderbuchmacher_innen stehen an dieser Stelle vor der Herausforderung, wie ein Buch zu machen sei, das die herkömmlichen Erzählungen über das angebliche Sosein der Welt durchbricht, aber inklusiv für diejenigen bleibt, die nur die tradierten Erzählungen kennen und auf kein linkes gesellschaftskritisches Umfeld zurückgreifen können. Wie also gleichzeitig für linke und nicht-linke Eltern und Bezugspersonen Kinderbücher gestalten?

Abhilfe hätte im hiesigen Falle ein umfangreicheres Glossar oder ein Nachwort speziell für Bezugspersonen schaffen können, das sich nicht damit begnügt im Modus der empowernden Gegenbehauptung offenbar Nichtselbstverständliches als Selbstverständlichkeiten auszustellen und eine inhaltliche Zustimmung stillschweigend vorauszusetzen, sondern das allgemeinverständlich auch die Kritikwürdigkeit der entsprechenden Konzepte darlegt. Das 2009 von Kathrin Kadasch und Svenia Dritter veröffentlichte Kinderbuch Mädchen oder Junge? liefert hier ein gutes Beispiel, wie der Spagat zwischen eigenem Theorieanspruch und niedrigschwelligerem Rezeptionsniveau gelingen kann. Sie geben den vorlesenden Bezugspersonen ein einführendes Vor- und erklärendes Nachwort an die Hand, das in leichter Sprache sowohl auf die Erziehungserfahrungen der Autor_innen als auch auf wenige ausgewählte Theorietexte Bezug nimmt.

Sprachphilosophische Voraussetzungen

„Sprache verstehen wir nicht als Abbildung von Wirklichkeit, vielmehr wird Wirklichkeit durch Sprache hergestellt. Die Welt wird durch und mit Sprache gemacht, wir alle werden mit und durch Sprache geprägt und sind damit aktiv und passiv an Rollenzuschreibungen und Positionierungen beteiligt. Um die Möglichkeiten, die unserer Sprache innewohnen, konstruktiv zu nutzen, ist ein bewusster Umgang mit ihr notwendig“

Da an der schlechten Einrichtung der Gesellschaft weder allein die Sprache schuldig ist noch politisch korrektes Sprechen unmittelbar in einen qualitativ menschlicheren Zustand für alle führt, ist das Sprachkonzept, das die Autor_innen dem Buch zugrunde legen, ein idealistisches: Sprache erhält auf diese Weise eine übermäßige Wirkkraft, die ihr realiter nicht zukommt. Problematisch ist das in der Tendenz dann, wenn die Sprachspiele nicht mehr der Infragestellung der hinter der Sprache stehenden Konzepte dienen, sondern vermeintlich richtiges, weil diskriminierungsarmes Sprechen einüben wollen. Wenn die Frage „Schon mal weißgefahren?“ sich in der Kritik am rassistischen Gehalt des Verbs „schwarzfahren“ erschöpft und nicht mehr die ökonomischen und politischen Zustände fokussiert, die Menschen überhaupt dazu zwingt, ein Verb mit dem Bedeutungsgehalt „ohne Ticket Zug fahren“ zu gebrauchen, würde der emanzipatorische Anspruch tendenziell aufgegeben und verkäme ein solches Kinderbuch zur pädagogischen Sprachreinigung. So gut und wichtig es auch ist auf die problematischen Gehalte von Sprache hinzuweisen und kreative Alternativlösungen zu suchen, sollte dies nicht zu der Annahme verleiten, damit die außersprachliche politische Praxis ersetzen zu können. machtWORTE! bleibt gegenüber dieser Kritik insofern immun, als es ihm in erster Linie darum geht die Widersprüchlichkeiten, Doppeldeutig- und Einseitigkeiten bewusst zu machen zwischen dem, was Sprache transportiert, und dem, wie die Welt „wirklich“ ist, also um die Konzepte, die hinter der Sprache stehen, und nicht um das Wortmaterial als solches.

Fazit

machtWorte! adressiert Kinder im Grundschulalter, die im Prozess sind sich Sprache anzueignen, und Eltern bzw. Bezugspersonen, die ein ausreichend kritisches Bewusstsein mitbringen, um die im Buch transportierten Inhalte vermitteln zu können. Seine Stärke liegt in der unprätentiösen Verbildlichung sensibler und marginalisierter Themen, wie die Thematisierung von Intergeschlechtlichkeit oder der Infragestellung von Familie als Schutzraum, und einem empowernden Ansatz, der die Bedürfnisse der jungen Leser_innen in den Mittelpunkt stellt und damit eine andere Perspektive auf sich und die Welt einzunehmen ermöglicht.

Zusätzlich verwendete Literatur

Kathrin Kadasch / Svenia Dritter 2009: Mädchen oder Junge? Verlag die Jonglerie, Berlin.

Cindy Ballaschk, Claudia Johann, Maria Elsner, Elisabeth Weber 2012:
machtWORTE! 26 und mehr Anregungen Sprache immer wieder neu zu leben.
Jaja Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-943417-20-3.
60 Seiten. 18,00 Euro.
Zitathinweis: Martin Brandt: Um die Ecke gedacht. Erschienen in: Alternative Kinderbücher. 25/ 2013. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1097. Abgerufen am: 29. 03. 2024 16:08.

Zum Buch
Cindy Ballaschk, Claudia Johann, Maria Elsner, Elisabeth Weber 2012:
machtWORTE! 26 und mehr Anregungen Sprache immer wieder neu zu leben.
Jaja Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-943417-20-3.
60 Seiten. 18,00 Euro.