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Wer braucht eigentlich die Polizei? Aktuelle Ausgabe Nr. 70, 16. Januar 2024

Wer braucht eigentlich die Polizei? © Jonathan Harrison

Kampferfahrene martialische Muskelpakete, die in einem endlosen Ringen von Gut und Böse gegen Mafiabosse, Serienkiller und Bankräuber Kugeln und Fäuste fliegen lassen. Melancholische Kriminalkommissar:innen mit Suchterfahrungen, die die Tiefen der menschlichen Psyche ausloten. Enthusiastische Straßencops, die die harte Realität des Bulle-Seins kennenlernen und ganz nah an „den Jungs im Problemkiez“ arbeiten wollen. In Film, Fernsehen und Literatur sind das einige zentrale Facetten der Polizei. Selbst die Fiktion zeigt, wie normalisiert die Anwesenheit der Polizei in unserer Gesellschaft ist. Allerdings sind die „Helfer:innen“ oder „Freund:innen“ in Uniform in der Realität oft alles andere als beschützende Held:innen. Für viele Menschen sind sie die Gefahr selbst. Warum das so ist, dafür gibt es viele Gründe: Institutioneller Rassismus, rechter Corpsgeist oder harte Männlichkeit; aber auch die zahlreichen Gesetze, die das Eigentum Weniger sichern und anderen dazu – auch mittels polizeilicher Gewalt – den Zugriff verwehren. Um zu verstehen, weshalb die Polizei als Institution zur Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols kaum hinterfragt, geschweige denn grundlegend auf den Prüfstand gestellt wird, müssen wir uns nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Geschichte der Sicherheitsbehörde ansehen.
 
Vom 15. bis ins 18. Jahrhundert hinein wurden unzählige Ländereien privatisiert und Leibeigene sowie Kleinbauern vertrieben, die in die immer größer werdenden Städte abwanderten. Dort, als in Armut gehaltene Reservearmee für die entstehenden Fabriken, stellten sie für die Obrigkeit bald eine schwer zu regierende „Gefahr“ dar. Mit der von Fürsten, Königen und Rechtsgelehrten betriebenen „Polizeywissenschaft“ etablierte sich ein neuer Typus der Menschenführung, der führend und leitend sein sollte. Die „Polizey“ tritt hier als überwachendes Ordnungsprinzip auf, indem sie unproduktive Kräfte sanktioniert oder eliminiert und die Kraft des Staates erhöht. Allem voran wollte die Obrigkeit sich vor vermeintlichen Kriminellen schützen. Gegenstand der Verordnungen waren bereits in früheren Zeiten Marginalisierte: sogenannte Vagabunden, Romn:ja und Sinte:zze, Jüd:innen, Diebe, Sexarbeiter:innen und „aufrührerische“ Frauen. Das Durchführen von Passkontrollen und Hausdurchsuchungen durch die bezahlten Sklavenpatrouillen in den Südstaaten der USA wurde später auch von Polizeien Europas und der Nordstaaten übernommen. Rassismus ist eine zentrale Strukturkategorie der Polizei, genauso wie die Disziplinierung und Bestrafung von Armen. Die potenziell tödlichen Auswirkungen dieser Politiken sind bis heute sicht- und spürbar – von Neukölln bis nach Mühlheim an der Ruhr.
 
Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts und dem Einsetzen des Liberalismus wurde die Polizei als Institution mehr und mehr zum Durchsetzungsorgan der herrschenden Klasse und zur Niederschlagung von Streiks und Massenprotesten, zur Einhegung des „Pöbels“, eingesetzt. Nicht zuletzt zeigt der Deutsche Faschismus, wie rasch eine liberal-rechtsstaatliche Polizei zur Terrorinstanz werden kann. In der NS-Zeit wurde die Polizei mit Befugnissen ausgestattet, die sie in alle Lebensbereiche straffrei intervenieren ließ. Die Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden, der Romn*ja und Sinte*zze, der politisch Verfolgten und Emigrant:innen war eine polizeiliche Operation. Bis heute gilt: Obwohl das Recht der zentrale Legitimationsrahmen der Polizei ist, kann sie sich leicht von ihren gesetzlichen Schranken befreien und souverän agieren, indem sie für sich selbst den Ausnahmezustand erklärt.

Wir fragen uns in dieser Ausgabe, wie die Geschichte der Polizei auf die Gegenwart wirkt. Den Aufschlag dazu macht Mesut Bayraktar mit einem Essay, der die Verflechtungen von Armut, Pöbel, Polizei – und Potenziale des popularen Widerstands – mit Hegel und Marx skizziert. Wir sagen: Die Institution Polizei muss es nicht für immer geben – und eine abolitionistische Perspektive, die diesem Gedanken Rechnung trägt, ist mehr als überfällig! Im Interview mit der Kampagne „Ihr seid keine Sicherheit“ (ISKS) und in unseren Schwerpunktrezensionen machen die Beitragenden dies mit dem Verweis auf soziale und emanzipatorische Alternativen deutlich.

In unserer 71. Ausgabe im April 2024 geht es um die Frage, welchen Platz Emotionen und Affekte in der politischen Sphäre haben, wo Politik mit ihnen gemacht wird – und auch, wie wir Emotionen in unserer eigenen politischen Arbeit als wichtigen Teil kollektiver Praxis begreifen können.

Wir wünschen euch viel Freude beim kritischen Lesen!

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