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Wir suchen wieder Rezensent:innen!
Ausgabe #72: Critical Gaming

Diamanten herumschieben, Armeen aufstellen, Autorennen fahren oder ein paar Pflanzen-Zombies verkloppen – das geht ruckzuck, überall. Abends dann noch ein paar Freund:innen auf dem Battlefield treffen, die endlose Quest-Reihe beenden oder noch ein paar Items grinden. Ist doch alles harmlos – oder? Seit Jahrzehnten hören wir: Der weltweite Terror und die Gewalt komme aus den virtuellen Welten hinein die Köpfe der Jugend! Ob Egoshooter, Echtzeit-Strategie-Spiele oder MMORPG (Multiplayer-Online-Rollenspiele): Waren nicht alle Amokläufer, alle Rechtsterroristen und sowieso alle Einzeltäter dieser Welt Gamer?!

Es scheint etwas dran zu sein an der moralisierenden Panik der Anti-Gamer-Narrative. Schließlich bezeichnet auch Steve „Breitbart“ Bannon, ultrarechter Medienstratege, Videospielwelten mit ihren „Millionen leidenschaftlicher junger Männer“ als „natürliche Arena“ für white supremacists. Er bedient damit die Vorstellung einer vorwiegend männlichen Gaming-Szene und alle antifeministischen Klischees, die damit einhergehen. Sein Befund mag für ultrarechte Gamer-Foren vielleicht gelten, für den Spiele-Mainstream trifft es aber längst nicht mehr zu. Denn möglichst breite und diversifizierte Zielgruppen ermöglichen maximalen Profit – und der steigt seit Jahren an: Laut Statista-Prognose wird der Umsatz allein auf dem deutschen Videospielmarkt im Jahr 2024 rund 4,89 Milliarden Euro betragen; Mobile Games sind darin mit circa 1,47 Milliarden Euro vertreten. Nicht unwichtig dabei: Der Umsatz des bei diesen Games zusätzlich eingesetzten Ingame Advertisings (Werbung, In-App-Käufe und so weiter) ist fast genauso hoch.

Games können der Normalisierung von Krieg und Militarisierung, der emotionalen Abstumpfung hin zu Horror, Tötungen und unethischen Entscheidungen zuträglich sein. Der Terror aus dem Spiel ist allerdings ein Abbild der Realität. Er spiegelt ein Gesellschaftssystem, das sozialchauvinistische, rassistische, misogyne und militaristische Inhalte normalisiert und befördert, auch weil das profitabel ist. Viele Game-Hersteller zahlen etwa Lizenzgebühren an Waffen- und Rüstungsunternehmen, wenn ihre Spiele virtuelle Reproduktionen von realen Waffen enthalten. Unabhängig von der Normalisierung durch Gewalt in Videospielen beinhaltet der Kauf so ziemlich aller bekannten Ego-Shooter-Spiele also die Querfinanzierung des militärisch-industriellen Komplexes.

Ein Markt dieser Größe lässt sich freilich nicht ohne ein Heer an mies bezahlten (Klick-)Arbeitenden schaffen. Der Kampf gegen Ausbeutung in der Gaming-Welt ist daher keine Interpretations-, sondern Organisationssache. Auf internationaler Ebene hat sich etwa die Graswurzelbewegung „Game Workers Unite“ formiert, die seit einigen Jahren versucht, gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter:innen im Spielesektor voranzutreiben. Auch für Gamer:innen selbst gibt es Potenzial für emanzipatorische Aneignung: Im Irak etwa organisierte die (nach einem bekannten Handyspiel) „PUBG-Generation“ genannte Jugend 2019 ihren Protest auf den Straßen über das gemeinsame Game. Sie nutzten die Multiplayer-Plattform, um sich zeitlich und räumlich zu organisieren und Taktiken auszutauschen. Auch in anderen Games haben Player:innen in der Vergangenheit virtuelle Räume genutzt, um politische Proteste zu inszenieren oder Debatten anzustoßen. „Total Refusal“, eine „pseudomarxistische Medien-Guerilla“, kreieren Irritation in Spielen, indem sie unter anderem die Nonplayable Characters (NPCs) anspielen und auf die Rollenverteilung bei Reproduktionsarbeiten aufmerksam machen. Unabhängige Games, die sich dem Profitzwang entziehen, ermöglichen darüber hinaus die konkrete Erfahrbarkeit von Planwirtschaft und Sozialismus, sie können Orte der Kollektivität, Solidarität und Erinnerung sein. Hinzu kommt das große Thema der Inklusivität von Spielwelten: Wer hat Zugang zu Spielen (inhaltlich wie konkret physisch), an wen richten sie sich, welche Themen werden auf welche Weise verhandelt? Wie können Spiele dabei helfen, psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren – oder lösen sie doch welche aus? Vor welchen Herausforderungen stehen Games und wie können emanzipatorische, klassenkämpferische, feministische Antworten darauf aussehen? Diesen und weiteren Fragen wollen wir in unserer 72. Ausgabe nachgehen: Bist du dabei?

Wir suchen für unsere Ausgabe Menschen, die Bücher, Broschüren, Sammelbände, Literatur zum Thema und – zum ersten Mal bei kritisch-lesen.de – auch die Games selbst besprechen möchten. Es sind sowohl Rezensionen aktueller und älterer Publikationen willkommen als auch Hinweise für interessante Publikationen (und Games), die in unserer Liste fehlen! Einsendeschluss für eure Vorschläge zum Schwerpunkt ist der 18.03.2024.

Zudem suchen wir jederzeit Rezensent:innen für aktuelle Neuerscheinungen in anderen Themengebieten. Auch Romane und Kinderbücher sind immer gern gesehen! Insbesondere möchten wir FLINTA*s ermutigen, uns Rezensionen anzubieten.

Wenn ihr Interesse oder weitere Ideen habt, dann schickt eure Vorschläge bitte mit einer kurzen Begründung eures Interesses und ein paar Worten zu euch selbst an redaktion@kritisch-lesen.de oder an eines der Redaktionsmitglieder. Wir entscheiden nach Eingang der Vorschläge, welche Rezensionen wir gerne in der Ausgabe dabeihätten – und melden uns dann bei euch. Der Einsendeschluss der fertigen Rezensionen ist der 10.05.2024.

Literaturvorschläge

Jean-Philipp Baeck, Andreas Speit (Hg.)(2020): Rechte Egoshooter. Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat. Berlin: Aufbau.

David Chalmers (2023): Realität+: Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie. Aus dem Englischen von Björn Brodowski und Jan-Erik Strasser. Berlin: Suhrkamp.

Amanda Cote (2020): Gaming Sexism. Gender and Identity in the Era of Casual Video Games. NYU Press.

Nick Dyer-Witheford, Greig De Peuter (2009): Games of Empire: Global Capitalism and Video Games. University of Minnesota Press.

Katie Ellis, Tama Leaver, Mike Kent (Hg.) (2023): Gaming Disability. Disability perspectives on contemporary video games. London/New York: Routledge.

Mathias Fuchs, Sonia Fizek, Paolo Ruffino, Niklas Schrape (Hg.) (2014): Rethinking Gamification. Lüneburg: Meson Press. (Open Access)

William Gibson (2016): Peripherie - Das Buch zur Serie The Peripheral. Stuttgart: Klett-Cotta.

Arno Görgen, Stefan Simond (Hg.) (2020): Krankheiten in digitalen Spielen. Interdisziplinäre Betrachtungen. Bielefeld: Transcript. (Open Access)

Arno Görgen, Tobias Unterhuber (Hg.) (2023): Politiken des (digitalen) Spiels: Transdisziplinäre Perspektiven Game Studies: Vol. 4. Bielefeld: Transcript. (Open Access)

Paidia (2023): Sonderausgabe Marx und das Computerspiel. Paidia - Zeitschrift für Computerspielforschung. https://paidia.de/sonderausgabe-marx-und-das-computerspiel

Drew Pendergrass, Troy Vetesse (2024): Half Earth Socialism. A Plan to Save the Future from Extinction, Climate Change and Pandemics. Brooklyn: Verso. (Im Erscheinen). Ist auch ein Game: https://play.half.earth/

Tonio Schachinger (2023): Echtzeitalter. Hamburg: Rowohlt.

Thomas Spies, Şeyda Kurt, Holger Pötzsch (Hg.) (2024): Spiel*Kritik. Kritische Perspektiven auf Videospiele im Kapitalismus. Bielefeld: Transcript. (Im Erscheinen) (Open Access)

Jamie Woodcock (2019): Marx at the Arcade. Consoles, Controllers, and Class Struggle. Chicago: Haymarket Books.