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Heterogene Männlichkeiten

Buchautor_innen
Aisha-Nusrat Ahmad / Doris Bardehle / Sabine Andresen / Klaus M. Beier
Buchtitel
Sexualität von Männern
Buchuntertitel
Dritter Deutscher Männergesundheitsbericht
Warum sexuelle Gesundheit nur als gutes Leben für alle möglich ist.

Der Männergesundheitsbericht wird seit 2010 von der Stiftung Männergesundheit herausgegeben. Die dritte Ausgabe mit dem Schwerpunktthema „Sexualität von Männern“ ist in Zusammenarbeit mit dem Institut für angewandte Sexualwissenschaft der Hochschule Merseburg erarbeitet worden. In 31 Beiträgen ist ein facettenreicher Einblick in verschiedene Sexualitäten von Männern* unter dem Gesichtspunkt der sexuellen Gesundheit entstanden. Es handelt sich dabei um einen Beitrag zur politischen, theoretischen und praxisorientierten Diskussion über Männlichkeiten im Kontext geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Die versammelten Perspektiven auf das Thema sind notwendigerweise widersprüchlich und beinhalten zugleich überraschende Schnittpunkte.

Wenn Männlichkeiten und Sexualitäten einerseits pluralisiert und damit ein essentialistisches Verständnis von ihnen in Frage gestellt werden, so entsteht daraus notwendigerweise eine Spannung gegenüber medizinischen Perspektiven, die auf männliche Körperlichkeit und Heterosexualität von cis-Männern fokussiert. Es wird in dem Band auch nicht davor zurückgeschreckt, jene Felder zu thematisieren, in denen es um (strafrelevante) Grenzüberschreitungen im Kontext von Sexualität und Männlichkeit geht. Dabei gelingt es eine Orientierung an den Perspektiven von Opfern sexueller Gewalt zu verfolgen und zugleich wird ein Horizont der sexuellen Gesundheit für alle nicht aus dem Auge verloren. Sexuelle Gesundheit ist ein zentraler Begriff, der die Gesamtausrichtung des Bandes bestimmt. Mit ihm wird deutlich gemacht, dass eine selbstbestimmte Sexualität von den materiellen und immateriellen Bedingungen für ein gutes Leben für alle nicht absehen kann.

Sexualitäten und Männlichkeiten im Plural denken

Martin Dinges zeigt, wie Sexualitäten sich im Laufe der Geschichte verändern und macht damit gleich zu Anfang klar: Sexualität ist nichts natürliches. Vielmehr ist Sexualität ein modernes Konzept, das im 19. Jahrhundert entstanden und seither ständigen Veränderungen unterworfen gewesen ist. Erkämpfte Freiräume bezüglich Sexualitäten und Geschlechtervorstellungen, wie sie zum Beispiel während der Weimarer Republik errungen worden waren, werden im Nationalsozialismus in einer rassistisch-heteronormativen Bevölkerungspolitik wieder aufgehoben. Auch aktuell befinden wir uns in einer Phase der Politisierung von Sexualität, die Formen eines „Kulturkampfes“ (S. 35) annimmt. Dieser Kulturkampf spielt sich zwischen denen ab, die sich für gleiche Rechte aller Geschlechter und Sexualitäten einsetzen und denen, die an einer essentialistischen Vorstellung von Geschlecht und Heterosexualität festhalten und damit Pluralisierungen als Bedrohung einer vermeintlich ursprünglichen Ordnung ablehnen. So wird klar: Gesellschaftliche Entwicklungen in Sachen sexueller Politiken sind keineswegs geradlinig in Richtung Emanzipation ausgerichtet.

Nicola Döring richtet ihren Blick anschließend auf das Verhältnis von Sexualitäten und Männlichkeiten. Sie plädiert für eine Wahrnehmung von Männlichkeiten, in der sowohl negative als auch positive Aspekte männlicher Sexualität in der Forschung betrachtet werden können. Sie will einen Fokus einseitiger Betrachtungen negativer Seiten von Männlichkeit verlassen, wie er ihrer Meinung nach mit einem machtanalytischen und herrschaftskritischen Verständnis von Männlichkeit verbunden ist. Mit Konzepten wie zum Beispiel einer „balancierten Männlichkeit“ oder von „queer straighten Männlichkeiten“ (S. 42) soll es ermöglich werden, Aspekten wie „sexuelle Lust“ und „zwischenmenschliche Nähe und Bindung“ (S. 64) eine positive Gewichtung in Verständnisweisen von Männlichkeiten zu geben. Ob allerdings mit einer Pluralisierung von Männlichkeiten auch Hierarchiesierungen und Herrschaftsverhältnisse in Frage gestellt oder aufgelöst werden, bleibt eine offene Frage.

Nachdem die Begriffe Sexualitäten und Männlichkeiten erläutert worden sind, wird von Heinz-Jürgen Voß und Doris Bardehle der Begriff der sexuellen Gesundheit eingeführt, wie er sich im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt hat. Sexualität und Gesundheit werden dabei nicht reduziert betrachtet. Vielmehr ist „sexuelle Gesundheit […] untrennbar mit Gesundheit insgesamt, mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden“ (S. 83). Gesundheit ist nicht nur Fehlen von Krankheit, sondern vielmehr körperliches, emotionales, mentales und soziales Wohlbefinden in Bezug auf Sexualität. Hier wird eine Perspektive des prinzipiell Möglichen eingenommen, mit der es um Bedingungen für ein gutes Leben für alle geht. Diese Bedingungen müssen realpolitisch erkämpft werden.

Wider die binäre Zweigeschlechtlichkeit

In dem programmatischen Titel „Männergesundheitsbericht“ liegt bereits ein grundsätzlicher Widerspruch, ist doch damit „eine Binarität von Geschlecht suggeriert“, die dazu auffordert, „rationalisiert über etwas zu schreiben, das nicht binär und nicht rationalisierbar ist – über Geschlecht“ (S. 240). Arn Sauer und Annette Güldenring problematisieren, dass das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit immer wieder als begrenztes und begrenzendes Denksystem auftaucht. Dabei bringt es ihrer Meinung nach mehr Probleme als Lösungen mit sich, wenn über Geschlecht, Männlichkeiten, Männer* und Sexualitäten nachgedacht und gearbeitet wird. Sauer und Güldenring plädieren dafür, über die Grenzen einer naturalisierenden Logik der Zweigeschlechtlichkeit hinauszugehen, die die Auseinandersetzungen immer noch prägt, wenn es zum Beispiel um Transgeschlechtlichkeit geht. Auch Takle Flörcken fragt, „inwiefern Asexualitätsforschung, die von binären Geschlechtermodellen ausgeht, geschlechtliche Vielfalt asexueller Menschen sinnvoll abbilden kann“ (S. 233). Aus diesen Perspektiven werden verstärkt Ansätze der Community-Forschung und Beratung gefordert. Mit ihnen werden Hoffnungen einer stärker heterogenisierenden und nicht-pathologisierenden Herangehensweise verknüpft, wie sie in der vorherrschenden medizinischen, psychologischen und beratenden Praxis vermisst werden. Welche Fragen und Problemstellungen in Ansätzen der Community-Beratung auftauchen können, bleibt an dieser Stelle unbesprochen, geht es doch hier vor allem darum, zunächst Alternativen zu vorherrschenden Praxen zu stärken.

Eine Heterogenisierung von männlichen beziehungsweise geschlechtlichen Wirklichkeiten steht in einem Spannungsverhältnis gegenüber zweigeschlechtlicher Vereindeutigung, wie sie – vielleicht notwendigerweise – in Beiträgen über den Zusammenhang von Sexualität, sexuellen Störungen und Identität mit Fokus auf Cis-Männer entsteht. Diese Spannungen sind in dem Band aber keine ärgerlichen gegenseitigen Ausschließungen, sondern erscheinen vielmehr produktiv, weil bei allen Autor*innen das Bemühen um die Anerkennung von Heterogenität deutlich zum Ausdruck kommt.

Überraschende Schnittstellen...

Die inhaltliche Breite der Themen bringt überraschende Überschneidungen hervor, die dazu anregen, an den Schnittstellen weiterzudenken. Ein Beispiel findet seinen Ausgangspunkt bei Aisha-Nusrat Ahmad und Phil C. Langer, die auf chronische Erkrankungen, Sexualitäten und Männlichkeiten blicken. Sie argumentieren zunächst, dass die vorherrschende soziale Konstruktion von Männlichkeit immer noch mit Vorstellungen von „Macht, körperlicher Stärke, Durchsetzungsfähigkeit, sexueller Potenz usw. aufgeladen ist“. Davon ausgehend bedeuten „chronische Erkrankungen gleichwohl eine tiefgreifende Problematisierung des vergeschlechtlichten Selbstbildes und der sozialen Agency/Handlungsfähigkeit“ (S. 341).

Eine Folge, so konkretisieren sie weiter, kann eine „abnehmende Möglichkeit einer Erektion und das infolgedessen (meist) veränderte Sexualleben“ sein (S. 341). Von Betroffenen kann das als Entziehung ihrer Männlichkeit betrachtet werden. Ahmad und Langer verweisen auf Schwierigkeiten in Bezug auf die Verwendung von sexuellen „Hilfsmitteln“. Sie beschreiben, wie schwierig es für einen Teil von Männern ist, alternative Formen der Sexualität zu erproben. „Wenn du es aufblasen musst, um es hochzubringen, vergiss es; es ist nicht natürlich, wenn Du es tust. Ich will einfach, uh, kein künstlicher Mann sein“ (S. 343). Die Männlichkeitsanforderung Erektionsfähigkeit und eine bestimmte Vorstellung von Sexualität stellen sich hier als Hindernis für einen vielleicht hilfreichen, alternativen Umgang mit den Folgen chronischer Erkrankungen auf das Sexualleben dar. Anja Drews bringt aus einer völlig anderen Blickrichtung auf den Umgang mit Sextoys einen mögliche Perspektive so auf den Punkt:

„Wenn wir es schaffen, den Fokus jenseits vom Geschlechtsverkehr auf eine spielerische, weniger genitalzentrierte Sexualität zu richten, wenn die männliche Erektion nicht mehr maßgeblich verantwortlich ist für eine erfüllte Sexualität und von diesem Druck befreit wird, kann Sexspielzeug eine sinnvolle Erweiterung der sinnlichen Genüsse darstellen“ (S. 289).

...und wichtige Anstöße

Angesichts der Diagnose über die aktualisierte Politisierung von Sexualitäten und Geschlechterverhältnisse, ist in dem Männergesundheitsbericht 2017 eine wichtige Stimme für eine geschlechtliche und sexuelle Vielfalts- und Gerechtigkeitspolitik zu sehen. Orientierungspunkte für die Ausrichtung des Berichts stellen reale Bedürfnisse in einer heterogenen geschlechtlichen und sexuellen Wirklichkeit dar. Das erscheint umso wichtiger, sind Männlichkeit und Sexualität derzeit doch zu einem umkämpften Terrain geworden, wie lange nicht mehr. Für weitere wissenschaftlich-praktische Diskussionen in den Arbeitsfeldern Medizin, Sexual- und geschlechterreflektierte Pädagogik, soziale Arbeit, (Psycho-)Therapie sowie kritische Geschlechter-, Männlichkeits- und Männer*forschung sind eine Fülle von Informationen und Anregungen mit dem Bericht vorgelegt. Es ist zu hoffen, dass der engagierte Austausch im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit an dem Bericht fortgesetzt wird. Eine gemeinsame respektvolle und herrschaftskritische Sprachfindung, ohne eine Leitbegrifflichkeit vorzugeben sowie eine Weiterentwicklung von Praxen, die von der Anerkennung einer sexuellen und geschlechtlichen Heterogenität gekennzeichnet ist, scheint nicht nur angesichts der Angriffe von rechts nötiger denn je.

Aisha-Nusrat Ahmad / Doris Bardehle / Sabine Andresen / Klaus M. Beier 2017:
Sexualität von Männern. Dritter Deutscher Männergesundheitsbericht.
Psychosozial-Verlag, Gießen.
ISBN: 9783837973037.
449 Seiten. 39,90 Euro.
Zitathinweis: Olaf Stuve: Heterogene Männlichkeiten. Erschienen in: Neue Klassenpolitik. 47/ 2018. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1480. Abgerufen am: 18. 04. 2024 23:34.

Zum Buch
Aisha-Nusrat Ahmad / Doris Bardehle / Sabine Andresen / Klaus M. Beier 2017:
Sexualität von Männern. Dritter Deutscher Männergesundheitsbericht.
Psychosozial-Verlag, Gießen.
ISBN: 9783837973037.
449 Seiten. 39,90 Euro.