Zum Inhalt springen
Logo

Kontinuitäten rechter Kulturpessimisten

Buchautor_innen
Volker Weiß
Buchtitel
Deutschlands Neue Rechte
Buchuntertitel
Angriff der Eliten - Von Spengler bis Sarrazin
Volker Weiß zeigt in einem Essay die historischen Vorläufer Sarrazins und deren Untergangsfantasien auf.

„Sterben die Deutschen aus?“, „Verdummen die Deutschen?“ oder auch: „Wie viel Sozialstaat ist tragbar?“. Diese und ähnliche Fragen geistern seit einiger Zeit durch die Medien und bedienen Untergangsszenarien um den Erhalt Deutschlands. Die jüngste und immer noch anhaltende Debatte dreht sich um das mittlerweile zum Bestseller avancierte Elaborat „Deutschland schafft sich ab“ vom ehemaligen Berliner Finanzsenator und nach wie vor SPD-Mitglied Thilo Sarrazin. Das Buch „Deutschlands Neue Rechte – Angriff der Eliten – Von Spengler bis Sarrazin“ des Hamburger Literaturwissenschaftlers und Historikers Volker Weiß widmet sich nicht nur der Frage, wieso die sogenannte „Sarrazin-Debatte“ eine so große öffentliche Resonanz erfahren konnte, sondern auch den historischen Vorläufern deutscher Untergangsliteratur.

„Sarrazin, der Sozialdemokrat“

Gerade Sarrazin und dem ebenfalls im Band erwähnten Sloterdijk gelang es, eine große Öffentlichkeit zu erreichen, da sie im Gegensatz zu den anderen dargestellten Protagonist_innen deutscher Untergangsliteratur nicht eindeutig der extremen Rechten zugeordnet werden können. Sarrazin selbst sieht sein Buch vielmehr in der Tradition des Kritischen Rationalismus und der überprüfbaren Fakten. Weiß hebt dabei hervor, dass sich bei Sarrazin eine Reihe von Aussagen finden, „die sich tief aus der sozialdemokratischen Denktradition speisen“ (S. 109) und sieht dies in jenen Fällen bestätigt, in denen konkrete politische Vorschläge dargestellt werden. Da er sich im Gegensatz zur NPD nicht als „Anwalt des kleinen Mannes“ inszeniert und auch nicht der Abschaffung des demokratischen Verfassungsstaates das Wort redet, sind seine vertretenen Ansichten vielmehr kompatibel mit den Positionen der sogenannten bürgerlichen Mitte und decken sich mit ihrem Leistungsfetisch. Eine positive Bezugnahme der extremen Rechten funktioniert also nur unter Ausblendung bestimmter politischer Schlussfolgerungen. Dennoch - und das hebt Weiß immer wieder hervor - hat Sarrazin den Schulterschluss mit der extremen Rechten auf Grund seiner sozialdarwinistischen Ausfälle und der Bezugnahme auf „wissenschaftliche“ Studien aus dem neonazistischen Spektrum selbst vollzogen.

Ein weiterer zentraler Widerspruch, der aber auch für den publizistischen Erfolg Sarrazins und weiterer Untergangsliteraten ausschlaggebend ist, findet sich in der Angst vor der Masse und der daraus erwachsenen Notwendigkeit elitärer Führer. Das zeigt sich daran, „dass die schärfsten Verkünder des angeblichen Kulturverfalls ihr Lamento meist selbst äußerst massenkompatibel vortragen und dabei nicht selten den Beifall des Mobs suchen“ (S. 128). Gerade hierin sieht Weiß wesentliche Elemente einer Diskursverschiebung, die sich auch im Handeln einer antifaschistischen Linken widerspiegeln muss. „Der von Autoren wie Sarrazin und Sloterdijk angestoßene Diskurs um Elite, Leistung und Vererbung hat damit Kreise erreicht, die etwa die NPD niemals hätte ansprechen können.“ (S. 131)

Um aufzuzeigen, dass sich die Grundzüge der Positionen, wie sie von Sarrazin vertreten werden, nicht grundlegend ändern, beginnt das Buch von Volker Weiß mit der Übersicht wichtiger Vertreter der Untergangsliteratur unterschiedlichen Epochen. Durch das Herausstellen zentraler Argumentationsmuster, die sich auch in den aktuellen Debatten wiederfinden, wird deutlich, dass die Objekte austauschbar erscheinen, die für „apokalyptische“ Visionen des Untergangs der „deutschen Nation“ oder „Kultur“ verantwortlich gemacht werden. In der gelungenen Übersicht werden verschiedene Ansätze beleuchtet, die sich zwar in ihren Erscheinungsformen historisch gewandelt haben, aber den gleichen Leitmotiven verhaftet sind: das Verhältnis von Masse und Elite, Niedergangsdrohungen und Träumen der nationalen Wiedergeburt.

„Historische Betrachtung vom Untergang der Deutschen“

Die Untergangsliteratur beschreibt wiederkehrend vermeintliche Zerfallsprozesse dessen, was sie als deutsche Kultur versteht. Die ersten Schriften erschienen in Deutschland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Autoren formierten sich aus einem antidemokratischen Spektrum, das sich insbesondere nach der deutschen Kriegsniederlage 1918 radikalisierte. Die bekannteste Schrift aus dieser Zeit, Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“, ist Ausgangsbasis des historischen Streifzuges von Volker Weiß. Spengler erhob für sich den Anspruch „Nietzsches Überlegungen zum Zerfall der christlichen Kultur und die Suche nach dem aristokratischen Element in der Geschichte zeitgemäß weiterzuführen“ (S. 15). Wie wichtig diese Schrift für die selbsternannten Kulturpessimist_innen weiterhin ist, zeigt die auch heute noch anhaltende Bezugnahme durch die extreme Rechte. Die 2004 erstmals erschienene Zeitschrift Blaue Narzisse rezensiert in regelmäßigen Abständen die Schriften Spenglers und stellt sich nur allzu gerne in die Traditionslinie der Bewahrer vor dem „kulturellen Zerfall“. Auch Sarrazin versucht in seinem einleitenden Exkurs mit den Zyklen von Auf- und Abstieg der Kulturgeschichte in Spenglerscher Manier den Untergang der deutschen Nation aufzuzeigen. Eine wichtige Schrift der deutschen Rechten im Kampf gegen die Weimarer Republik sieht Weiß in dem 1927 veröffentlichten Band „Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung“ von Edgar Julius Jung, der dem Umfeld Oswald Spenglers zuzurechnen ist. Auch hier werden die Gemeinsamkeiten zur Veröffentlichung Sarrazins herausgearbeitet. Bleiben u.a. die Schriften Spenglers eher nebulös, befasst sich Jung (gleichwohl dem Vorgehen Sarrazins) ausführlich mit dem demografischen Zustand der Deutschen. Beide bedienen sich hierfür empirischer Daten und nutzen diese „zur Etablierung einer Ideologie der Ungleichheit und der Verknüpfung des „Wertes“ und der „Erbmasse“des Menschen“ (S. 18). Als letztes Beispiel dieser Epoche dient das 1929 von José Ortega y Gasset geschriebene Buch „Der Aufstand der Massen“. Der Autor beklagt den Verlust der Führung und, ähnlich anderen zeitgenössischen Vertreter_innen, die Demokratisierung westlicher Gesellschaften. Gleichzeitig sieht er die Welt des 20. Jahrhunderts als Endpunkt einer „Vermassung“ und führt dies auf dem selbstverschuldeten Fall der alten Eliten zurück.

Erwähnung durch Volker Weiß findet diese Schrift aber auch deshalb, weil sie eine größere Bekanntheit erst in der frühen Bundesrepublik erfahren hat und sich damit deutlich von den Beweggründen der Untergangsliteraten im Nachkriegsdeutschland unterscheidet. Genau in dieser Zeit lässt sich auch eine Neuausrichtung in der Argumentation feststellen: War es bei den oben genannten Protagonist_innen noch die Angst vor dem kulturellen Untergang durch die Vermassung der Gesellschaft, wandte man sich nunmehr dem Verlust der „nationalen Größe“ und einer Führungselite in Anbetracht liberaler und demokratischer Gesellschaftsentwürfe sowie eine kritisch werdenden Jugend zu.

Als einflussreicher Vertreter dieser Zeit gilt Weiß der Journalist Friedrich Sieburg. Dieser war in den 1950er Jahren Chef des Literaturressorts der FAZ und im Nationalsozialismus in der Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes tätig. „Für Sieburg begann der Niedergang der Deutschen erst mit der zwischen zwei Großmächten eingeklemmten und von ihm als „Rumpfdeutschland“ geschmähten Nachkriegsdemokratie.“ (S. 25) Auch für den Philosophen Arnold Gehlen hatte sich Deutschland bereits mit der Kriegsniederlage 1945 abgeschafft. Er versucht jedoch seine Kritik auf Grundlage einer sich verbreitenden Infragestellung autoritärer Herrschaftsformen gerade unter studentischen Jugendlichen noch einen Schritt weiterzuführen. Nicht allein die bundesdeutsche Demokratie ist für den kulturellen Niedergang verantwortlich zu machen, vielmehr die humanistische Ethik. „Das Ergebnis war für Gehlen die programmatische Aufwertung des Minderwertigen in Form einer philosophischen Begründung der Zugänglichkeit der materiellen und geistigen Lebensgüter für Alle.“ (S. 35) Daraus erwachsen in der Vorstellung Gehlens überzogene Ansprüche des Bürgers an den Staat, die gleichzeitig die „Macht der Institutionen“ beschneiden und somit weder Bindung noch Führung daran zulassen. Ende der 1970er Jahre wandelte sich der eingesetzte Selbstfindungsprozess der Konservativen in eine Offensive und führte zu einer Radikalisierung, die Volker Weiß u.a. in der Gründung des Studienzentrums Weikersheim 1979 als konservativen Thinktank sieht. Der erste Vorsitzende Hans Filbinger (CDU) strebte eine Stärkung des rechten Flüges der CDU an. Diese innerparteiliche Rechtsopposition konnte sich jedoch nie tatsächlich durchsetzen. Allerdings griff in dieser Phase der Orientierung eine Rechte, die sich nunmehr auf dem Terrain zwischen Konservatismus und Neonazismus bewegte, wieder auf die Untergangsrhetorik zurück. Doch ging es ihr diesmal darum, die Deutungshoheit über die deutsche Geschichte zu erlangen und sie um den Nationalsozialismus herum zu konstruieren.

„Die „Neue Rechte“

Dieser jüngeren Generation publizistischer Akteure ging es „nicht mehr [um die] Klage [der] verlorenen imperialen Größe und weltpolitische Bedeutung der Deutschen, sondern [um] die „Normalisierung“ des deutschen Nationalgefühls und der deutschen Identität“ (S. 46). Als wichtigste Plattform dieser häufig als „Neue Rechte“ bezeichneten Strömung gilt Volker Weiß die 1986 gegründete Wochenzeitschrift Junge Freiheit sowie der 1994 erschienene Sammelband „Die selbstbewusste Nation“, in dem sich eine Reihe Rechtsintellektueller über die Wiedergewinnung der nationalen Identität der Deutschen austauscht. Volker Weiß zeigt an diesem und weiteren Beispielen auf, dass die Fortführung des Elite-Masse-Motivs unter nationalistischen Vorzeichen nach 1945 wesentlich im publizistisch-künstlerischen Raum stattfand.

Ähnlich wie Sarrazin wird auch der Philosoph Peter Sloterdijk im Gegensatz zu den anderen vorgestellten Beispielen nicht der extremen Rechten zugeschrieben. Allerdings haben auch seine Auslassungen über die „Masse ohne Potential“, für die er im Wesentlichen die Bildung, die dem „Anspruch zur Verbesserung der Vielen“ diene und dementsprechend für den kulturellen Niedergang mitverantwortlich zeichne, großen Zuspruch von Rechts erfahren.

„Die Angst vor der Masse“

Doch ist allen ein Misstrauen gegen das „Zeitalter der Massen“ zu bescheinigen. Dass dieses Zeitalter jedoch zwangsläufig mit der Industrialisierung einsetzte, war bereits im 19. Jahrhundert anerkannt und floss auch in Arbeitsbereiche der Wissenschaften ein, wie Weiß darlegt. Im Zuge dieser Erkenntnis treten aber noch weitere Punkte auf. Hervorgehoben wird zum einen die Suche der demokratischen Gesellschaft nach dem richtigen Verhältnis von Masse und Elite, die immer auch von den Untergangsliteraten genutzt wurde. „Zur Abwehr der befürchteten ‚Herrschaft der Massen‘ postulierten Elitetheorien die Ungleichheit als ‚notwendiges Strukturprinzip‘ der Gesellschaft.“ (S. 76) Der Anstieg der Bevölkerungszahlen in Europa befeuerte zudem die Angst vor einer „qualitativen Verschlechterung des hochwertigen Menschenmaterials“ durch die Masse. Auch Überbevölkerung bleibt ein ständiger Begleiter dieses Phänomens. Wie Volker Weiß betont, wird „Enge“ bei geopolitischen Autoren wie etwa Hans Grimm in seinem Roman „Volk ohne Raum“ zum nationalen Krisensymptom mit dem aggressive Expansion begründet. Diese Ansicht befördert im Wechselspiel die Sorge um die genetische Qualität der Deutschen aufgrund der Einwanderung von außen. „Jetzt hieß es bei Edgar J. Jung: ‚Die Deutschen sterben aus!‘“ (S. 81) Mit der Annahme vererbbarer menschlicher Intelligenz findet sich eine extreme Nähe zu den von Sarrazin verbreiteten Thesen. „Mit dieser Argumentation verlässt er den rein elitentheoretischen Diskurs und schlägt einen Bogen zu den Anfängen des ‚wissenschaftlichen‘ Rassismus.“ (S. 84)

Abschließend zu betrachten ist die Konstante des Sprechers als Opfer und Märtyrer und die daraus erwachsene Wahrnehmung als „Tabubrecher“. Nach Weiß wertet die defensive Pose das imaginäre Opfer moralisch auf und diese Überlegenheit lässt sich wiederum in Einklang mit dem Heroismus des Nationalisten bringen. Der Akteur wird nicht als Aggressor wahrgenommen, sondern als Widerstandskämpfer. „Auch Thilo Sarrazin inszenierte sich als Aufbegehrender gegen eine repressive Übermacht. Sein Gegner war das Heer der […] Gutmenschen […], gegen das er […] antrat.“ (S. 96)

Um einen effektiven Umgang mit diesem Problem zu entwickeln, ist es notwendig, die zum Teil aufgeregte und häufig von inhaltlichen Schwächen begleitete Diskussion in einen größeren Zusammenhang zu stellen und so eine wirkungsvolle Strategie gegen eine Rechte zu entwickeln, die sich aus Leistungsdruck, Ausgrenzung, Elitedenken und Rassismus speist. Die Lektüre des Buches von Volker Weiß kann hier eine sinnvolle Unterstützung bieten, ist sie doch darum bemüht, die Aussagen Sarrazins und anderer Untergangsliteraten analytisch zu erfassen und die notwendige Auseinandersetzung darum differenziert zu begleiten.

*

Der Autor ist Mitglied im Redaktionskollektiv des Antifaschistischen Infoblattes aus Berlin.

Volker Weiß 2011:
Deutschlands Neue Rechte. Angriff der Eliten - Von Spengler bis Sarrazin.
Ferdinand Schöningh, Paderborn.
ISBN: 978-3-506-77111-7.
141 Seiten. 16,90 Euro.
Zitathinweis: Ulrich Peters: Kontinuitäten rechter Kulturpessimisten. Erschienen in: Rechte „Mitte“ – „extreme“ Rechte. 3/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/c/899. Abgerufen am: 19. 04. 2024 08:50.

Zum Buch
Volker Weiß 2011:
Deutschlands Neue Rechte. Angriff der Eliten - Von Spengler bis Sarrazin.
Ferdinand Schöningh, Paderborn.
ISBN: 978-3-506-77111-7.
141 Seiten. 16,90 Euro.